Interview mit Johannes Hartl: „Die Kraft eines fokussierten Lebens“

by Hofelich
Foto: Johannes Hartl © Johannes Hartl / Fotograf: Julian Pesch

Dr. Johannes Hartl ist Philosoph, Theologe und Speaker. Mit seinen Vorträgen und Büchern inspiriert er dazu, Spiritualität, Psychologie und Philosophie neu zu denken. In seinem aktuellen Buch „Die Kraft eines fokussierten Lebens“ geht er der Frage nach, wie wir im Zeitalter permanenter Ablenkung wieder Klarheit gewinnen können. Hartl zeigt, warum echte Veränderung nicht durch große Vorsätze, sondern durch kleine, konsequente Schritte entsteht und weshalb eine tragfähige Lebensvision der entscheidende Motor für ein erfülltes Leben ist. Im Interview spricht er darüber, was Fokus im Kern bedeutet, wie wir mit den „Fokus-Killern“ unserer Zeit umgehen können, welche Rolle Werte und Spiritualität spielen und warum ein wirklich erfülltes Leben aus dem Einklang von Kopf und Herz erwächst.

Herr Hartl, worum geht es in Ihrem neuesten Buch und welche Zielgruppen sprechen Sie an?

Hartl: Es gibt ein Thema, das (leider) so gut wie jeden betrifft: wir leben im Zeitalter der Ablenkungen und es fällt uns allen immer schwerer, den Blick auf das wirklich Wichtige zu halten. Darum geht’s in dem Buch. Es eignet sich für jeden, der mit dem Problem kämpft, den eigenen Fokus immer mal wieder aus den Augen zu verlieren. Deshalb ist es auch für eine ziemlich breite Zielgruppe gedacht.

Was bedeutet Ihrer Meinung nach ein fokussiertes Leben und warum ist es so wichtig?

Hartl: Im Fokus zu leben bedeutet einfach, dass mein Leben mit meinen Werten im Einklang steht. Es genügt also nicht, gute Absichten zu haben; es geht darum, diese Absichten in sehr konkreten, täglich wiederholten Schritten umzusetzen. Das führt langfristig dazu, dass mein Leben kongruent wird mit dem, wie ich eigentlich leben möchte. Das ist deshalb wichtig, weil jeder von uns nur ein Leben hat. Trotzdem erwischen wir uns ständig dabei, ganz anders zu leben als wir eigentlich leben wollten.

Sie sagen, wir leben in einem Zeitalter der Ablenkung. Was sind aus Ihrer Sicht die größten „Fokus-Killer“ unserer Zeit?

Hartl: Diese Frage habe ich bei meiner Vortragstour in vielen Städten hunderten von Besuchern gestellt und heraus kamen überall die zwei selben Dinge: Handy und Social Media. Wir sind noch immer die erste Generation der Menschheit, die das volle Ausmaß der Digitalisierung zu spüren bekommt und mir scheint, wir sind gerade erst dabei, einen guten Umgang damit zu erlernen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass diese Geräte gerade dazu gebaut wurden, um Aufmerksamkeit zu binden. Algorithmen im Netz perfektionieren den Kampf um die Aufmerksamkeit und machen uns süchtig danach.

Wie können wir es trotzdem schaffen, uns weniger ablenken zu lassen und den Fokus nicht zu verlieren?

Hartl: Wir müssen lernen, uns digitale Auszeiten zu nehmen. Wir brauchen Inseln der Stille, ganz bewusst eingeplante Fokus-Zeiten. Das kann eine stille Stunde am Tag sein, das kann ein Wochenende oder sogar ein ganzer Urlaub ohne Handy sein. Einen gesunden Umgang mit den digitalen Geräten zu finden dürfte eine der großen Aufgaben der Gegenwart sein. Außerdem halte ich es für einen großen Irrweg, Kindern und Teenagern weitgehend unbegrenzten Zugang zu Handys und Tablets zu geben.

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Sie betonen die Bedeutung einer Lebensvision, die trägt. Wie findet man eine solche Vision, gerade in einer Zeit, in der so viele Möglichkeiten und Wege offenstehen?

Hartl: Zunächst geht es um die Einsicht, dass Entscheidungen wichtig sind. Wer sich alle Wege offenhält, beschreitet keinen einzigen davon. Selbst eine falsche Entscheidung ist besser als gar keine, denn man kann sie korrigieren und hat noch etwas dabei gelernt. Eine Lebensvision entwickeln kann man mit zwei Tagen der Stille, einem Stift und einem Zettel. Dann kann man sich schonungslos ehrlich die Fragen stellen: wo will ich hin mit meinem Leben? Was ist mir wirklich wichtig? Was möchte ich der nächsten Generation hinterlassen? Was sind meine höchsten Werte? Welche Not treibt mich um, was in der Welt möchte ich verändern?

Welche Rolle spielen Werte und Spiritualität für ein wirklich erfülltes und fokussiertes Leben?

Hartl: Der Mensch ist ein Sinnwesen. Wir stellen unweigerlich die Frage, was wirklich wichtig ist. Was ist mir heilig? Wir sterben alle. Wir sind fehlbar und begrenzt. Gesunde Spiritualität bedeutet, all diesen Tatsachen nicht auszuweichen, sondern sich ihnen zu stellen. Ohne die Sinndimension fehlt dem Leben etwas Wesentliches. Die religiösen Fragen wird jeder Mensch für sich selbst ganz unterschiedlich beantworten, doch zumindest kommt keiner ein Leben lang an ihnen vorbei.

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Foto: Buchcover „Die Kraft des fokussierten Lebens“ von Johannes Hartl © Verlag Herder

 

In Ihrem Buch sprechen Sie davon, dass in kleinen Schritten große Kraft steckt. Was genau meinen Sie damit? Können Sie uns ein Beispiel geben, wie schon kleine Veränderungen den Alltag grundlegend wandeln können?

Hartl: Ein Bekannter von mir hat begonnen, eine Liegestütze pro Tag zu machen. Ja, tatsächlich eine. Manchmal sind es mehr als eine, nie aber weniger. Das hat dazu geführt, dass er insgesamt deutlich sportlicher geworden ist. Das Spannende dabei ist: es war eben gerade kein großer Vorsatz, sondern ein ganz kleiner, der wirklich den Unterschied gemacht hat. Hätte er sich vorgenommen, täglich 20 zu machen, wäre er vielleicht an einem Tag erfolgreich gewesen, hätte an anderen Tagen aber eine Ausrede gefunden. Gerade weil das Ziel so klein ist, lässt es sich aber leicht verstetigen und langfristig besteht genau darin der Trick.

Viele Menschen verwechseln Disziplin mit Druck. Wie gelingt es, fokussiert zu leben, ohne sich selbst zu überfordern?

Hartl: Nicht jeder Druck ist schlecht. Wer sich selbst nie etwas Unbequemes zumutet, bleibt auch weit unter seinem Potenzial. Es geht um ein gesundes Maß: ein Vorsatz sollte mich fordern, aber nicht überfordern. Wenn die Motivation stimmt, dann ist aber auch ein wenig Druck OK. Leitend sollte immer die Frage sein: was kann ich wirklich langfristig umsetzen? Die Kunst besteht darin, das in einer normalen Durchschnittswoche Machbare anzupeilen und nicht in unrealistische Idealisierungen zu verfallen.

Ihr Buch verbindet moderne Psychologie mit biblischen Weisheitstexten. Welche überraschenden Parallelen haben Sie dabei entdeckt?

Hartl: In erster Linie wie vieles aus der Bibel heute noch hoch relevant ist. Ein Beispiel. Im Buch der Spruchwörter, Jahrhunderte vor Christus geschrieben, steht: „Mehr als alles hüte dein Herz; denn von ihm geht das Leben aus.“ (Sprüche 4,23) Die Erkenntnis, dass wir uns um unser eigenes Innen kümmern sollten und dass das ganze Leben davon abhängt, wie es um mein Innen beschaffen ist, könnte auch aus der modernen Psychologie stammen. Die Weisheit der Bibel wusste das aber schon viel länger. Und wir wären gut beraten, sie zu beherzigen. Das eigene Herz radikal ernst zu nehmen, scheint mir ein sehr wichtiger Ansatz. Jesus lehrt: „was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, doch sich selbst verliert und an seiner Seele Schaden nimmt?“ (Lukas 9,25) Eine überaus berechtigte Frage, die überhaupt nicht zeitgemäßer sein könnte.

„Worauf Dein Fokus gerichtet ist, wird Dein ganzes Leben prägen“, schreiben Sie. Wie können wir lernen, unsere Aufmerksamkeit bewusst zu lenken – gerade wenn uns Sorgen oder Ängste vereinnahmen?

Hartl: Sorgen und Ängste haben die Tendenz, das Denken komplett zu absorbieren. Dadurch geraten wir leicht in eine Spirale der Passivität: weil die Sorgen groß sind, denke ich darüber nach. Durch das Nachdenken gewinnt die Sorge aber immer mehr Raum, sie wird immer größer. Sie wird zum Fokus meines Lebens. Das wird jedoch dazu führen, dass ich mich gelähmt und blockiert fühle; die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass ich wirklich etwas am Zustand verändere. Deshalb besteht auch hier die Kraft wieder in kleinen Schritten. Gegen Ängste und Sorgen hilft eigentlich nur, im entgegengesetzten Geist zu handeln, also etwas zu tun. Oder wie Winston Churchill einmal sagte: „If You are going through hell, keep going.“

Sie sind nicht nur Philosoph und Theologe, sondern auch vierfacher Vater. Wie leben Sie persönlich Fokus im Familienalltag?

Hartl: In erster Linie ist der Fokus auch da angefochten. Das beginnt schon – wir haben Teenager zuhause – bei der Frage nach der Bildschirmzeit. Wir neigen alle dazu, zu viel am Handy zu hängen und müssen uns mitunter gegenseitig ermahnen. Doch zugleich haben wir im Familienalltag ein paar Routinen und Rituale etabliert, die uns helfen. Gemeinsame Essenszeiten, gewisse Spielregeln. Besondere Bedeutung hat der gemeinsame Sonntag, Feste und unser Urlaub. Für Kinder sind wiederkehrende Ordnungen im Alltag elementar wichtig. Ich persönlich genieße das auch. Ich bin beruflich viel unterwegs und manchmal auch gestresst. Da ist es wohltuend, wenn es zuhause eine gewisse Struktur gibt.

Warum ist es wichtig im Leben, Verstand und Gefühl sowie Kopf und Herz zu versöhnen?

Hartl: Weil wir Menschen aus alledem bestehen. Jeder von uns hat sowohl die eher rationalen als auch die eher emotionalen Anteile. Und dann gibt es noch die besondere Weisheit des Herzens, die nicht immer für den Kopf verständlich ist.

Bei uns im Westen hat man bisweilen das Gefühl, Kopf und Verstand seien alles, worauf es ankommt. Wir sind eine sehr verstandesfixierte Kultur. Doch im Leben gibt es viel mehr. Es gibt die Verbundenheit, die Intuition, das Gefühl, die Schönheit und die Transzendenz. Es gibt Gott.

Begleitend zum Buch haben Sie eine Eventreihe in Deutschland, Österreich und der Schweiz gestartet. Was erwartet die Teilnehmer?

Hartl: Ein inspirierender Abend mit Musik, interaktiven Elementen, einem Vortrag und „Meet-and-Greet“. Allerdings ist die Tour bereits ausgebucht.

Gemeinsam mit Ihrer Frau haben Sie das Gebetshaus Augsburg gegründet. Was hat Sie dazu bewogen und was genau findet dort statt?

Hartl: Das Gebetshaus ist so etwas wie ein modernes Kloster. Ein Ort christlicher Spiritualität für das 21. Jahrhundert, an dem Tag und Nacht gebetet wird. Gott steht also immer im Mittelpunkt. Das Ganze hat klein begonnen, doch mittlerweile kommen bis zu 10.000 Menschen zu unserer Konferenzen. Auch das ist die Kraft eines fokussierten Lebens, wenn man so will. Unser nächstes Glaubensfestival heißt „MEHR“ und findet 3.-6.1. statt. Ich persönlich habe den Glauben als etwas extrem Kostbares entdeckt und sehe mit einer gewissen Betrübnis, dass es den Kirchen nicht immer gut gelingt, die freudige und schöne Dimension des Glaubens zu vermitteln. Es braucht neue Angebote, wo das geschieht und das Gebetshaus ist ein Versuch dazu.

Was ist für Sie persönlich der Sinn des Lebens?

Hartl: Liebe. Der Sinn meines Lebens ist, lieben und geliebt zu werden.

 

Weitere Informationen unter: johanneshartl.org
Fotos: Johannes Hartl © Fotograf: Julian Pesch; Buchcover „Die Kraft des fokussierten Lebens“ von Johannes Hartl © Verlag Herder

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