Interview mit Richard David Precht: „Jäger, Hirten, Kritiker: Eine Utopie für die digitale Gesellschaft“

by Hofelich
Porträtbild Richard David Precht:

Zweifelsohne wird die Digitalisierung als vierte industrielle Revolution die Arbeitswelt dramatisch verändern. In seinem neuesten Bestseller „Jäger, Hirten, Kritiker: Eine Utopie für die digitale Gesellschaft“ zeigt Philosoph Richard David Precht die größten Chancen und Risiken auf und erklärt, welche Weichen wir unbedingt stellen müssen. „Denn die Zukunft kommt nicht – sie wird von uns gemacht! Die Frage ist nicht: Wie werden wir leben? Sondern: Wie wollen wir leben?“, so Precht. Im Interview spricht der Bestseller-Autor über die Arbeitswelt der Zukunft, die Chancen für ein selbstbestimmteres, erfüllteres Leben sowie über seinen persönlichen Sinn des Lebens.

Herr Precht, die Digitalisierung wird zu revolutionären Umbrüchen in der Arbeitswelt führen. Was werden die wichtigsten Veränderungen sein?

Precht: Sehr viele Berufe, die algorithmisierbar sind, werden künftig von Maschinen gemacht. Das bedeutet, dass in den nächsten Jahrzehnten einige Millionen Menschen in Deutschland ihre Arbeit verlieren werden. Es ist nicht zu erwarten, dass in gleichem Maße neue Vollzeit-Erwerbsberufe entstehen, die das ausgleichen können.

Diese Veränderungen sind bereits heute in vielen Branchen erkennbar, neben der Industrie vor allem bei Banken, Steuerberatern, Rechtsanwälten oder im Versicherungswesen. Hier wird es Jobverluste im großen Stil geben. Später werden dann noch weitere Arbeitsplätze wegfallen, wie die der Fahrdienstleister.

Sicher werden wir in einigen Bereichen auch in Zukunft noch Fachkräftemangel haben – vor allem bei hochqualifizierten Experten rund um die Digitalisierung und neue Technologien. Doch diese neuen Spezialisten-Stellen werden die in Masse wegfallenden Jobs nicht ersetzen können. Außerdem werden Leute, die 20 Jahre bei der Volksbank hinter dem Schalter gestanden haben, nicht plötzlich zum Big Data Analysten oder Virtual Reality Designer.

 

Super Computer

 

Wir werden diesen Umbau in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren nicht so schaffen, dass wir das, was an neuen Jobs entsteht mit dem verrechnen können, was an alten wegfällt. Es ist also durchaus möglich, dass wir in zehn Jahren sehr viel mehr Arbeitslose haben und trotzdem noch Fachkräftemangel herrscht, das ist kein Widerspruch. Der Arbeitsmarkt ist keine Rechenaufgabe. Insgesamt wird ein großes Heer von angestellt arbeitenden Menschen im mittleren Bereich ihre Jobs verlieren.

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Während früher durch die Automatisierung der Produktion eher niedrig qualifizierte Arbeitsplätze weggefallen sind, trifft es heute auch qualifizierte Akademiker. Deren Arbeit durch Algorithmen zu ersetzen ist besonders attraktiv, weil sie gut bezahlt sind. Das geschieht jetzt schon, bei Juristen zum Beispiel. Als in den USA die Akten im Zusammenhang mit dem VW-Abgasskandal ausgewertet wurden, kamen schon Systeme wie der Super-Computer Watson von IBM zum Einsatz, die einen Großteil der juristischen Arbeit erledigt haben.

Dieses massive Problem, auf das wir mit voller Fahrt zusteuern, wird heute jedoch von den Eliten in Wirtschaft und Politik heruntergespielt. Ich glaube nicht, dass diese Leute so auftreten, weil sie es nicht besser wüssten, sondern weil sie Angst davor haben, dass die Menschen Panik kriegen und sich gegen die Digitalisierung wenden könnten. Ich glaube da spielen im Augenblick sehr viel Zweck-Optimismus und Zweck-Lügen eine große Rolle.

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Buch-Cover Jaeger Hirten Kritiker von Richard David Precht

 

 

Welche weiteren massiven Risiken ergeben sich durch die Digitalisierung, wie etwa die Diktatur der Digitalkonzerne aus dem Silicon Valley?

Precht: Wir haben hier eine Machtkonzentration, die in der Wirtschaftsgeschichte einmalig ist und müssen darauf reagieren. Erstens müssen wir sehen, dass sich die großen Digitalkonzerne nicht am Ende alles unter den Nagel reißen, womit man Geld verdienen kann.

Zweitens, dass sie ihre unglaubliche Datenmacht nicht missbrauchen. Wir haben ja jetzt schon am Beispiel des Facebook-Skandals gesehen, dass die Grenzen sehr fließend sind und der Missbrauch von Daten quasi schon zum Geschäftsmodell gehört. Da werden wir gewaltige Anstrengungen machen müssen. Wir werden sehen, ob die EU-DSGVO tatsächlich ein geeignetes Instrument ist, um auch wirksam gegen die GAFAs – Google, Apple, Facebook und Amazon – vorzugehen. Ich bin gespannt, ob das gelingt, jedenfalls ist dieser Machtkampf noch nicht entschieden.

Wo sehen Sie die größten Chancen der durch die Digitalisierung geformten neuen Arbeitswelt?

Precht: Durch die Digitalisierung wird viel einförmige und oft langweilige Arbeit wegfallen, und die Menschen werden in Zukunft wesentlich weniger arbeiten müssen als bisher. Das ist ein großes Menschheitsversprechen!

Wir werden mehr Zeit haben, darüber nachzudenken, was wir tatsächlich tun wollen, was uns erfüllt und nicht so viel arbeiten, einfach weil wir arbeiten müssen. Das ist aus philosophischer Perspektive langfristig gesehen eine sehr schöne Vorstellung. Allerdings übersehe ich nicht, dass auf dem Weg dorthin ökonomische sowie psychologische Probleme liegen.

Was ist die wichtigste ökonomische Hürde, die wir überwinden müssen?

Precht: Klar ist, dass der Sozialstaat, so wie wir ihn heute kennen, künftig nicht mehr funktionieren wird. Wenn immer weniger Menschen in sozialversicherungspflichtigen Berufen erwerbstätig sind, dann werden diese die große Zahl der in Zukunft arbeitslosen Menschen nicht mehr finanzieren können. Wir müssen also überlegen, wie wir unseren Sozialstaat neu aufstellen. Dabei werden wir an der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens wahrscheinlich nicht vorbeikommen.

 

Millennials im Coworking Space

 

Ein wichtiger Eckpfeiler Ihrer Utopie ist die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Was ist dabei zu beachten? Für wie realistisch halten Sie es, dass die Politik das tatsächlich einführen wird?

Precht: Diese Vorstellung ist gewöhnungsbedürftig, weil man sich aus der klassischen Leistungsgesellschaft nicht verabschieden möchte und Angst davor hat, dass die Leute faul werden.

Aber ich glaube, es wird ein anderer Effekt eintreten. Ich bin davon überzeugt, dass man eine höhere Arbeitsmoral entwickelt, wenn man grundversorgt ist und anschließend überlegen kann, was man zusätzlich gerne arbeiten möchte.

Heute muss ich als Hartz IV-Empfänger einen erheblichen Teil dessen, was ich aufstocke und hinzuverdiene, wieder abdrücken an den Staat. Beim Grundeinkommen nicht. Das wird sich mit Sicherheit positiv auf die Arbeitsmoral auswirken. Hinzu kommt der Angstabbau. Das heißt, die Leute sind so abgesichert, dass keiner mehr aus Angst irgendeine ungeliebte Arbeit annehmen muss.

Das Grundeinkommen wird sicherlich demnächst von allen großen Parteien aufgegriffen. Allerdings in unterschiedlichen Konzepten. Wir werden ein liberales Grundeinkommen und ein humanes in der Diskussion haben. Wichtig ist, dass wir dann tatsächlich ein humanes Grundeinkommen bekommen. Und nicht eines, bei dem es den Leuten schlechter geht als jetzt.

Häufig ist von einem Grundeinkommen von 1.000 Euro die Rede. Dann würde sich ein Hartz IV-Empfänger, der in München lebt, verschlechtern, weil er derzeit an Transferleistungen bis zu 1.200 Euro bekommt. Das ist der Grund, warum viele Linke gegen das Grundeinkommen sind, weil sie glauben, dass es ein Versuch ist, den Sozialstaat auszuhöhlen. Deswegen ist es wichtig, dass das Grundeinkommen nicht unter aktuellen Hartz IV-Sätzen plus Transferleistungen liegt. Ein humanes Grundeinkommen in Höhe von 1.500 Euro wäre meiner Meinung nach eine sinnvolle Größe.

 

Arbeit im Home Office

 

Wie lässt sich das bedingungslose Grundeinkommen finanzieren?

Precht: Zunächst würde der Staat nach der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ja allein schon durch den massiven Bürokratieabbau eine ganze Menge Geld sparen. Schließlich fällt dann dieser enorme Verwaltungsaufwand, den wir jetzt für Sozialleistungen bei der Agentur für Arbeit haben, weg.

Als zusätzliche Finanzierungsquelle werden wir sicher eine Finanztransaktionssteuer brauchen. Nach einem Gutachten der dänischen Beratungsgesellschaft CE beläuft sich der Nominalwert aller in Deutschland oder von deutschen Finanzinstituten gehandelten Wertpapiere auf jährlich 275 Billionen Euro! Sollte es da nicht möglich sein, dass der Staat eine Billion davon abschöpft?

Ich sehe jetzt mit Freude, dass der spanische Finanzminister eine Finanztransaktionssteuer einführen möchte, die Franzosen wollten das unter Sarkozy bereits tun. Diese Steuer hätte noch weitere Vorteile: So wird den Zocker-Geschäften das Wasser abgraben oder tatsächlich dafür gesorgt, dass auch der kleine Mann von diesen Spekulationen profitiert und nicht nur die ganz Großen. Sie hätte eine ganze Reihe positiver Folgen.

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Inwiefern ergibt sich daraus die Chance für die Menschen, in Zukunft erfüllter und selbstbestimmter zu leben?

Precht: Die große Chance für die Gesellschaft und den Einzelnen ist es, auf diese Weise mehr Gründerenergie und Unternehmergeist zu schaffen. Wenn ich weiß, ich bin durch ein bedingungsloses Grundeinkommen materiell abgesichert, – 1.500 Euro pro Monat sind zwar nicht besonders viel, aber ich habe so viel, dass ich davon leben kann – dann kann ich natürlich viel mehr Kreativität darauf verwenden, wie und mit wem ich mein weiteres Geld verdienen möchte.

Ich glaube, das wird sich sehr positiv auswirken. Denn zu arbeiten, etwas zu gestalten, sich selbst zu verwirklichen, liegt in der Natur des Menschen. Von neun bis fünf in einem Büro zu sitzen und dafür Lohn zu bekommen nicht!

 

Soziales Engagement

 

Was ist mit Menschen, die mit dieser neu gewonnenen Freiheit der Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung nicht umgehen können?

Precht: Die gibt es jetzt schon und das wird so bleiben: etwa Hartz IV-Empfänger, die aus psychischen Gründen nicht mehr für den Arbeitsmarkt zu gebrauchen sind oder die nichts tun wollen. Das ist aber auch nicht schlimm. Wenn es immer weniger Jobs gibt, dann ist es nicht das Schlimmste auf der Welt, dass jemand, der ein Grundeinkommen kriegt, kein Interesse daran hat, einer zusätzlichen Erwerbsarbeit nachzugehen.

Wir müssen Abstand nehmen von der Vorstellung, dass jeder berufstätig sein muss. Wir werden in so vielen Bereichen der Produktion und bei Dienstleistungen Computer und Roboter einsetzen und große Produktivitätsfortschritte erzielen, dass für Menschen einfach immer weniger an Arbeit da ist. Es ist viel schlimmer für die, die unbedingt arbeiten möchten und keinen Job kriegen, als für die, die gar nicht arbeiten wollen.

Warum ist hier ein stärkeres Eingreifen des Staates notwendig, um die gewaltigen Veränderungen in die richtigen Bahnen zu lenken? Warum sollten wir nicht naiv abwarten, sondern pro aktiv handeln?

Precht: Es ist ja die Aufgabe des Staates, sich über diese Dinge Gedanken zu machen, also etwa wie man das soziale Sicherungssystem langfristig erhalten kann. Im Augenblick ist es so, dass sich die Parteien nicht trauen, diese hier angesprochenen Themen öffentlich zu machen. Aus Angst, die meisten Leute würden in Panik geraten und sich gegen die Digitalisierung wenden. Oder noch schlimmer: Sie würden sie nicht mehr wählen.

Deswegen muss man im Wahlkampf immer etwas Schönes versprechen, dass man mehr Geld für irgendetwas ausgibt oder irgendetwas besser wird. Man betreibt hier im großen Stil Augenwischerei und traut sich nicht, die Dinge wirklich zu benennen. Keiner will auch der erste sein, aus Angst vor medialem Ärger. Aber ich bin sicher, dass wir spätestens im übernächsten Wahlkampf über verschiedene Konzepte des bedingungslosen Grundeinkommens sprechen werden. Das wird kommen.

 

Selbstverwirklichung

 

Was fasziniert Sie seit Ihrer Jugendzeit am Thema Philosophie, was treibt Sie an?

Precht: Tatsächlich treiben mich schon immer die Neugier und das Interesse an der Philosophie an. Die Philosophie ist ein so riesiges Feld, auf dem man sein Leben lang etwas dazulernen kann. Ich finde es natürlich besonders spannend, Philosophie nicht nur als historisches Fach zu betrachten. Sondern sich wirklich zu überlegen, was man mit dieser Kunst des Nachdenkens konkret anfangen kann, um die Gesellschaft zu verbessern. Auch gerade angesichts eines solch massiven Umbruchs, der jetzt durch die Digitalisierung auf uns zukommt.

Sie sind auch Herausgeber des philosophischen Wirtschaftsmagazins agora42. Warum ist für Sie die Verbindung von Philosophie und Wirtschaft heute so wichtig?

Precht: Ökonomie war ja tatsächlich ursprünglich einmal eine wichtige Sparte der Philosophie. Denn alle großen wichtigen ökonomischen Fragen sind nicht nur alleine ökonomische Fragen, sondern immer auch philosophische. Also Fragen wie: Was ist das Ziel meiner Wirtschaftspolitik? Welches Menschenbild steht dahinter? Dass sich Ökonomen kaum noch für Philosophie, Philosophen kaum mehr für Ökonomie interessieren, ist ein gesellschaftliches Fiasko.

Die beiden Redakteure Frank Augustin und Wolfram Bernhardt, der eine Philosoph, der andere Ökonom, haben die Zeitschrift 2009 gegründet, um beide Themen wieder zusammenzubringen, das finde ich großartig. In diesem Zusammenhang habe ich auch die Herausgeberschaft übernommen, aber meine Rolle ist wirklich nur die des Herausgebers, ich nehme inhaltlich keinen Einfluss. agora42 bietet eine ganz hervorragende Plattform für Positionen und Theorien, Austausch und Streitkultur, Hintergrundwissen und Visionen rund um die Wirtschaftsphilosophie. Wir werden auch weiterhin sehr philosophisch über die künftige Wirtschaft nachdenken.

Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs sind immer gute Zeiten für die Philosophie. Aktuell nimmt das gesellschaftliche Interesse daran in der Tat immer stärker zu und darüber freue ich mich.

Wieso ist es wichtig, die Philosophie aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft zu holen und – wie Sie es tun – in verständliche Worte zu kleiden?

Precht: Es ist in der Geschichte der Philosophie fast immer so gewesen, dass die Philosophen versucht haben, sich verständlich auszudrücken. Unsere abendländische Philosophie beginnt mit Platon. Er hat sich quasi imaginäre Talk-Shows ausgedacht, in denen über kontroverse Themen miteinander diskutiert wird. Er wollte die Gesellschaft in Athen verbessern. Nichts anderes wollten die Philosophen der Aufklärung, die französischen wie etwa Jean-Jacques Rousseau und die englischen wie Adam Smith oder John Locke. Diese Aufklärungsphilosophen sind alle sehr einfach zu lesen.

Es ist eine ziemlich deutsche Tradition, dass man nur das für gute Philosophie hält, was der Leser nicht so richtig versteht. Und von dieser Tradition dürfen wir uns auch gerne verabschieden. Dazu leiste ich gerne meinen Beitrag.

 

Richard David Precht sitzt auf der Couch

Richard David Precht / Foto: Amanda Berens

 

Was ist für Sie persönlich der Sinn des Lebens?

Precht: Als Philosoph glaubt wirklich keiner an einen objektiven Sinn des Lebens. Wenn man jung ist, möchte man wissen: Was ist der Sinn des Lebens? Wenn man alt ist, stellt man sich die Frage: Hat mein Leben einen Sinn gehabt?

Und dann wird man sich selbst fragen müssen, ob das, was man der Welt gegeben hat, mehr aus guten Dingen bestand, mehr aus Liebe und Zuneigung, ob man Menschen hat helfen können. Oder ob man in erster Linie anderen Menschen im Weg stand und Anlass zum Ärgernis geboten hat.

Ich hoffe, dass ich noch lange genug lebe, um irgendwann sagen zu können, dass mein Leben, so wie ich es gelebt habe, einen Sinn hatte. Das ist aber dann nicht der Sinn des Lebens, sondern mein Sinn des Lebens.

Die klügste Antwort in diesem Zusammenhang hat der englische Aphoristiker Ashleigh Brilliant gegeben: „Es ist besser, das Leben hat keinen Sinn, als es hat einen Sinn, dem ich nicht zustimmen kann“. Das ist die klarste Absage an einen objektiven Sinn des Lebens.

Das Interview führte Markus Hofelich.

Weitere Informationen unter: www.facebook.com/richarddavidprecht
Bilder: Richard David Precht: Fotografin Amanda Berens  / Cover: Goldmann Verlag / Unsplash

 

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