Interview mit Barbara Liebermeister: „Führen mit Alpha Intelligence: Startklar für die Arbeitswelt der Zukunft“

by Hofelich
Foto: Barbara Liebermeister © Barbara Liebermeister / Urheber Lars Neumann, Dresden

Barbara Liebermeister ist Expertin für New Leadership und die Zukunft der Arbeit. Sie verfügt über Erfahrung im Management internationaler Kosmetikkonzerne wie Dior und L’Oreal, ist systemischer Coach und hat vor zehn Jahren das Institut für Führungskultur im digitalen Zeitalter gegründet. In Ihrem neuen Buch „Führen mit Alpha Intelligence: Startklar für die Arbeitswelt der Zukunft“, stellt sie einen innovativen Ansatz vor, der Führungskräften hilft, sich in einer von rascher Veränderung und sinkender Planbarkeit geprägten hybriden Arbeitswelt zu behaupten. Im Interview erklärt sie, was Alpha Intelligence auszeichnet und wie sich dieser Ansatz von traditionellen Führungsmodellen unterscheidet, wie Führung im Krisenmodus gelingt, warum Empathie und Beziehungen so wichtig für eine erfolgreiche Arbeitswelt sind und was sie selbst im Kern antreibt.

Frau Liebermeister, was war der persönliche Impuls für Sie, dieses Buch zu schreiben – und warum gerade jetzt?

 Liebermeister: Mich trieb eine Mischung aus persönlichen Erlebnissen und dem Unmut an, den ich zunehmend bei Führungskräften feststellte. Aber auch bei Mitarbeitenden, wie sie geführt werden oder wie sie gerne geführt werden wollen. Seit vielen Jahren begleite ich Führungskräfte und Organisationen durch die Herausforderungen des digitalen Wandels. Doch gerade seit der Corona-Krise fiel mir verstärkt auf: Viele Führungskräfte sind der festen Überzeugung, ihre Teams auch unter heutigen Bedingungen gut führen zu können – und wundern sich gleichzeitig, warum Motivation schwindet und Mitarbeitende zwischen Überforderung und innerer Kündigung pendeln. Ich spürte deutlich: Die Werkzeuge und Modelle, mit denen wir in der Führung bisher gearbeitet haben, greifen nicht mehr. Sie passen schlicht nicht mehr zu der neuen Realität, die von Dynamik, Unsicherheit und Widersprüchlichkeit geprägt ist.

Parallel absolvierte ich einen Master in Neurowissenschaften und tauchte tief in die Frage ein, wie sehr digitale Medien und neue Formen der Zusammenarbeit auf unser Denken, Fühlen und Handeln wirken. Dabei wurde mir klar: Unsere biologischen Voraussetzungen bestimmen maßgeblich, wem wir folgen – und wie sehr. Denn eines dürfen wir nicht vergessen: Der Mensch ist nicht gemacht für die permanente Interaktion in 2D.Und doch wird genau diese Form der Zusammenarbeit bleiben – ob wir es wollen oder nicht. Mein Ziel ist es daher, diese Realität nicht nur zu akzeptieren, sondern sie so zu gestalten und zu optimieren, dass Führungskräfte und Mitarbeitende gleichermaßen erfolgreicher und erfüllter arbeiten können. Und dann war dieser Moment gekommen, mein Wissen, meine Erfahrungen und Beobachtungen zusammenzuführen – und in eine neue Systematik zu überführen. Wir stehen an einem Dreh – und Angelpunkt. Wenn Führung zukunftsfähig bleiben soll, müssen wir sie neu denken.

Was genau verstehen Sie unter „Alpha Intelligence“ – und wie unterscheidet sich dieser Ansatz von traditionellen Führungsmodellen?

Liebermeister: Alpha Intelligence ist ein neuer Begriff für eine neue Zeit. Er beschreibt fünf ineinandergreifende Intelligenzen, die heute essenziell sind, um wirksam zu führen – in einer Welt, die sich schneller verändert, als klassische Kompetenzmodelle Schritt halten können.  Hier geht es nicht um „mehr vom Alten“, sondern um ein neues Führungsverständnis, das auf die Anforderungen einer komplexen, hybriden und technologiegetriebenen Welt antwortet.

Während traditionelle Führungsmodelle oft auf statischen Kompetenzen basieren – etwa Kommunikationsfähigkeit, Konfliktmanagement oder Zielorientierung – geht es bei Alpha Intelligence um dynamische Fähigkeiten, die auf Haltung, Reflexionsfähigkeit und situativer Anpassung beruhen.

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Im Kern umfasst Alpha Intelligence:

  • Alpha Personality – die Fähigkeit zur Selbstführung, Selbstwahrnehmung und persönlichen Klarheit.
  • Alpha Relations – Beziehungsintelligenz: Menschen verbinden, Sicherheit geben, Signifikanz stiften.
  • Alpha Digitality – digitale Souveränität: Technologie verstehen, gestalten und bewusst einsetzen.
  • Alpha Resilience – innere Stabilität, um mit Krisen und Widersprüchen produktiv umzugehen.
  • Alpha Synergy (Cyborg Intelligence) – die Fähigkeit, Mensch und Maschine neu zu denken: nicht als Gegensätze, sondern als ergänzende Kräfte.

Hier geht es darum, Grenzen bewusst zu setzen, Verantwortung beim Menschen zu belassen – und trotzdem Technologie intelligent einzubinden. Die Cyborg Intelligence ist dabei keineswegs ein Science-Fiction-Konzept. Sie steht für einen gesunden Umgang mit KI und Automatisierung: Wer führt, muss nicht nur digitale Tools bedienen können, sondern auch verstehen, wann der Mensch gebraucht wird – mit Empathie, Ethik und Entscheidungsfähigkeit – und wo Maschinen unterstützen dürfen, ohne Verantwortung zu übernehmen.

Alpha Intelligence ist damit mehr als ein Führungsmodell. Es ist ein Reflexionsrahmen für eine Haltung, die der Zeit voraus ist – und die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, ohne die Chancen der Technologie zu verlieren. Während klassische Führungsmodelle für Klarheit und Stabilität entwickelt wurden, zielt Alpha Intelligence auf Bewegung, Wandel und Unschärfe. Alpha Intelligence fordert und fördert die Fähigkeit, mit Unsicherheit, Komplexität und Widersprüchen umzugehen – also genau mit den Faktoren, die traditionelle Führungsmodelle häufig ausgeklammert haben.

In Ihrem Buch sprechen Sie von einem neuen Führungstypus. Welche Eigenschaften zeichnen Menschen mit Alpha Intelligence aus?

Liebermeister: Wenn ich über Menschen mit Alpha Intelligence spreche, geht es mir nie um Idealbilder. Es geht um Persönlichkeiten, die Führung neu denken – nicht lauter, aber klarer. Nicht kontrollierend, sondern kraftvoll durch innere Überzeugung. Diese Menschen brennen – aber sie verbrennen nicht. Sie führen sich selbst, bevor sie andere führen. Sie suchen nicht nach der nächsten Methode, sondern nach Sinn, Substanz und Wirkung. Ihre Klarheit ist spürbar, ihre Haltung inspirierend. Man folgt ihnen nicht, weil sie die lauteste Stimme im Raum haben – sondern weil sie die klarste Perspektive bieten.

Alpha Intelligence zeigt sich in Ambiguitätstoleranz, echter Beziehungskompetenz, digitaler Souveränität und der Fähigkeit, aus Vielfalt kollektive Stärke zu machen. Es geht nicht um perfekte Führung – es geht um bewusste, menschliche Führung. Um eine Haltung, die in unsicheren Zeiten Orientierung schafft, ohne Kontrolle auszuüben. Was mich bei diesen Menschen auch beeindruckt: Sie sind Führungspersönlichkeiten und zeigen auch ihre Zweifel. Sie lassen sich davon nicht lähmen – sie nutzen sie als Kompass. Sie sind nicht immer laut, aber sie sind leidenschaftlich. Und diese Leidenschaft wirkt. Nicht als Show – sondern als Signal: Führung darf individuell sein. Und sie muss es auch.

 

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Wie verändert sich Ihrer Meinung nach die Rolle von Führungskräften in einer zunehmend digitalen und dezentralen Arbeitswelt?

Liebermeister: Sie wird paradoxerweise menschlicher, nahbarer. Je mehr wir digitalisieren und dezentral arbeiten, desto mehr braucht es Führung, die emotionale Sicherheit, Sinn und Orientierung vermittelt. Gleichzeitig müssen Führungskräfte heute akzeptieren, dass sie nicht mehr alles wissen und steuern können. Sie müssen lernen, Räume zu gestalten, in denen andere Verantwortung übernehmen können. Das verlangt von ihnen ein anderes Selbstbild: weniger der „Macher“, mehr der „Ermöglicher“. Das ist für viele eine echte innere Transformation.

Welche Rolle spielen emotionale Intelligenz, Empathie und Selbstführung im Kontext von Alpha Intelligence?

Liebermeister: Sie sind die Basis. Ohne Selbstführung keine echte Führung. Und ohne emotionale Intelligenz keine tragfähige Verbindung zu anderen. Gerade in digitalen Kontexten kommt noch etwas hinzu: Wir können nicht mehr auf nonverbale Resonanz und implizite Zwischentöne im selben Maß zählen wie im persönlichen Kontakt. Umso bewusster müssen wir uns darin schulen, Empathie und emotionale Klarheit einzubringen – auch über Distanzen hinweg. Ich sage oft: Technik darf Verbindung nicht ersetzen. Führung muss Verbindung gestalten.

Sie setzen sich auch mit Themen wie Sinn und Werteorientierung auseinander. Welche Bedeutung haben diese Begriffe im Führungsalltag von morgen?

Liebermeister: Ich bin überzeugt: Sinn und Werteorientierung sind kein Nice-to-have mehr – sie sind der Kern zukunftsfähiger Führung. Das ist genau das, was uns Menschen von anderen Lebewesen – und Maschinen – unterscheidet. In einer hochgradig vernetzten, schnelllebigen Welt wächst unser Bedürfnis nach Sinn, Werten und Tiefgründigkeit spürbar. Das bestätigen auch unsere Forschungen. Wenn Organisationen das nicht bieten, werden sie nicht nur ihre besten Köpfe verlieren.

Werteorientierung heißt heute aber nicht mehr, schöne Leitbilder an die Wand zu hängen. Sie muss sich im gelebten Alltag zeigen: in der Art, wie geführt wird, wie Entscheidungen getroffen werden, wie Konflikte ausgetragen werden. Alpha Intelligence will Führung wieder als Frage der Haltung und Werte verankern – statt sie auf bloße Tools und Techniken zu reduzieren.

Sie arbeiten mit vielen Führungspersönlichkeiten aus der Praxis. Welche Rückmeldungen bekommen Sie zu Ihrem Konzept?

Liebermeister: Die Rückmeldungen, die ich erhalte, sind meist sehr ermutigend – und zugleich erstaunlich ehrlich. Viele Führungspersönlichkeiten sagen mir: „Endlich spricht mal jemand aus, was wir längst spüren – dass wir anders führen müssen und dass die alten Rezepte nicht mehr tragen.“ Was sie besonders schätzen, ist die Verbindung von Praxis und Neurowissenschaft. Es geht nicht um abstrakte Konzepte, sondern um greifbare Beispiele und Werkzeuge, die ihnen im Alltag helfen. Gerade dieser Brückenschlag gibt ihnen Sicherheit – weil sie nicht nur was sie ändern sollten besser verstehen, sondern auch warum so vieles nicht mehr funktioniert wie früher.

Natürlich höre ich auch kritische Stimmen – vor allem, wenn klar wird: Das Ganze ist kein Schnellrezept. Es verlangt, sich selbst auf einer tieferen Ebene mit der eigenen Haltung und dem Führungsverständnis auseinanderzusetzen. Manche empfinden das zunächst als fordernd oder unbequem. Aber genau darin liegt die Chance – auf eine neue Qualität von Führung, die nicht nur reaktiv verwaltet, sondern aktiv gestaltet.

Was sind die größten Hindernisse, wenn Unternehmen Alpha Intelligence in der Führungskultur etablieren wollen?

Liebermeister: Das größte Hindernis ist oft die eigene Trägheit im System. Viele Unternehmen haben noch Strukturen, Prozesse und Anreizsysteme, die Kontrolle und Planbarkeit belohnen – und nicht Selbstverantwortung und flexibles Denken.

Dazu kommt: Es braucht einen Kulturwandel auf der Führungsebene selbst. Wer immer nur im Außen agiert und keine Bereitschaft zur eigenen inneren Entwicklung mitbringt, wird an die Grenzen kommen. Kurz gesagt: Es scheitert nicht an fehlendem Wissen, sondern an fehlendem Wollen und Raum zur Entwicklung. Und wie meist: Am fehlenden Durchhaltevermögen bzw. dass zu hohe Erwartungen an die Veränderung gestellt werden. Das braucht Zeit, es versteht sich als eine Art Reise.

Wie kann man Alpha Intelligence ganz konkret entwickeln – sowohl als Einzelperson als auch im Team?

Liebermeister: Es beginnt immer bei sich selbst: Sich selbst zu analysieren und besser kennen und verstehen lernen. Dazu gehört, die eigenen Trigger, Denk- und Verhaltensmuster zu reflektieren. Ähnlich wie ein Leistungssportler: Wenn er oder sie sich für einen Wettkampf vorbereiten, analysieren sie sich sehr gründlich, was sie dafür benötigen: Die beste Leistung zu liefern. Führungskräfte von heute gehen jeden Tag in einen Wettkampf und fragen sich in der Regel, wie sie den bestehen mit ihrem Team, ohne sich selbst in den richtigen ‚State‘ gebracht zu haben.  Auf Teamebene heißt es: Räume schaffen für Reflexion, Austausch und kollektive Lernprozesse. Alpha Intelligence entwickelt sich nicht in PowerPoint-Seminaren, sondern im gemeinsamen Erleben und Gestalten.

Ich arbeite viel mit sogenannten Reflexionsräumen, in denen Teams lernen, Ambivalenzen auszuhalten, Vertrauen aufzubauen und gemeinsam Lösungen für komplexe Herausforderungen zu entwickeln.

Und zum Schluss ganz persönlich: Was ist für Sie der Sinn des Lebens?

Liebermeister: Für mich ist der Sinn des Lebens, sich selbst immer wieder neu zu entdecken und dabei anderen Räume für Wachstum und Entfaltung zu eröffnen.
Ich empfinde große Freude daran, Menschen in ihrer Entwicklung zu begleiten und dabei selbst zu lernen, wie wir in dieser komplexen Welt menschlicher und bewusster miteinander umgehen können. Wenn ich am Ende sagen kann: Ich habe etwas bewegt – im Kleinen wie im Großen – dann war es ein sinnvolles Leben.

 

Weitere Informationen unter: barbara-liebermeister.com

 

Foto: Barbara Liebermeister © Barbara Liebermeister / Urheber Lars Neumann, Dresden

 

 

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