Interview mit Dr. Jörg Bernardy: „Der kleine Alltagsstoiker oder die Fähigkeit, in jedem Menschen etwas Schönes zu sehen“

by Hofelich
Interview mit Dr. Jörg Bernardy: „Der kleine Alltagsstoiker“

Wie kann ein gutes Leben gelingen? Diese Frage stellen sich immer mehr Menschen in unserer von rasanten Veränderungen und Stress geplagten Welt. Doch bereits vor zweitausend Jahren haben die Stoiker konkrete praktische Antworten darauf gefunden, die bis heute nichts an Kraft und Wirksamkeit verloren haben. Im Kern des Stoizismus stehen Werte wie innere Ruhe, Gelassenheit sowie Mut und Gerechtigkeit. Aber auch das Brennen für die eigenen Ziele und den inneren Lebenssinn macht für die Stoiker ein gutes Leben aus. Der Philosoph, Autor und Speaker Dr. Jörg Bernardy beschreibt in seinem neuen Buch „Der kleine Alltagsstoiker“ zehn Gelassenheitsregeln fürs Lebensglück. Im Interview spricht er über die wichtigsten Zutaten für ein glückliches, zufriedenes Leben, was ihn antreibt und seinen persönlichen Sinn des Lebens.

Herr Dr. Bernardy, was hat Sie dazu bewogen, das Buch „Der kleine Alltagsstoiker“ zu schreiben? Welche Zielgruppe sprechen Sie vor allem an? Worum geht es?

 Bernardy: In diesem Buch habe ich versucht, die wichtigsten Ideen und „Life-Hacks“ der Stoiker in zehn Lebensregeln zusammen zu fassen. Die stoische Lehre ist die erste Philosophie, die sich systematisch mit dem menschlichen Mindset auseinandersetzt.

Worin besteht das Geheimnis der inneren Ruhe? Wie können wir gelassener werden und unser Potenzial entfalten? Welche praktische Lebenshilfe steckt in der stoischen Philosophie und wie hilft sie uns dabei, widerstandsfähiger und spielerischer im Umgang mit Krisen und Rückschlägen zu werden?

Im Grunde verbinde ich im „kleinen Alltagsstoiker“ zweierlei: eine erzählerische Einführung in die Philosophie und Geschichte der Stoa sowie eine persönliche Rückschau auf die wichtigsten Erkenntnisse meines bisherigen philosophischen Lebens.

Beim Schreiben habe ich also einerseits auf die letzten 25 Jahre zurückgeschaut und für mich geprüft, wo und wie ich eigentlich selbst philosophische Ideen in meinem Alltag praktisch umsetze. Nach welchen Regeln lebe ich eigentlich? Inwieweit hat mich die Auseinandersetzung mit der Philosophie darin gestärkt, mein eigenes Potenzial zu entfalten? Und wie kann besonders die stoische Philosophie uns dabei helfen, unsere ureigene intrinsische Motivation zu finden und ein gutes Leben zu führen? Die zehn Gelassenheitsregeln sind sozusagen das „Best of“ meines eigenen Lebens.

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Andererseits interessiere ich mich schon sehr lange für die Verbindung von Philosophie und Psychologie – und im „kleinen Alltagsstoiker“ wollte ich zeigen, wie sehr die stoische Philosophie mit aktuellen Erkenntnissen aus Psychologie, Verhaltenstherapie und anderen Wissenschaften vereinbar ist. Denn die Stoiker sind nicht nur die Vordenker der modernen kognitiven Verhaltenstherapie, ihre Spuren finden sich auch in der aktuellen Coaching- und Managementliteratur. Schließlich wollte ich zeigen, wie all diese einzelnen Themen, Fragen und Impulse für ein besseres Leben in der stoischen Philosophie zusammenlaufen.

Dieses Buch ist für alle Leserinnen und Leser geeignet, die mit Hilfe von Philosophie und Psychologie ihre Lebenszufriedenheit und die Gestaltung ihres Alltags verbessern wollen. Der Gedanke, dass wir alle unseres Glückes Schmied sind, stammt übrigens von Marc Aurel und ist ein gutes Motto für die gesamte Philosophie der Stoa.

Was macht die Philosophie der Stoiker im Kern aus? Und was fasziniert Sie persönlich besonders daran?

 Bernardy: Ich finde das Denken und die Ideen der Stoiker vor allem deshalb so faszinierend, weil ein Großteil ihrer philosophischen Ansätze und Fragen so aktuell und zeitlos ist. Seit 2011 findet beispielsweise einmal jährlich eine „Stoische Woche“ statt, ein internationales Event der University of Exeter, bei dem sich kognitive Therapeuten, Universitätsphilosophen, Praktizierende und Interessierte aus der ganzen Welt treffen.

Laut einer Befragung der Teilnehmenden macht sich die regelmäßige Anwendung der stoischen Philosophie für sie unter anderem folgendermaßen bemerkbar: positive Emotionen nehmen zu, negative hingegen ab und insgesamt verbessert sich die allgemeine Lebenszufriedenheit. Die Stoiker müssen eine unglaublich tiefgehende und starke Intuition besessen haben, um ihre Gedanken und Lehrsätze so zu formulieren, dass sie auch heute noch zahlreiche Leser und Leserinnen auf der ganzen Welt berühren und erreichen.

Gleichzeitig fasziniert mich aber auch die intuitive und tiefe Verbundenheit, die sich im Kern der stoischen Philosophie verbirgt, eine Verbundenheit mit der Natur, mit dem Kosmos, mit der eigenen inneren Stärke und unserem Umfeld.

 

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Dr. Jörg Bernardy: „Der kleine Alltagsstoiker“

 

Was sind demnach die wichtigsten Zutaten für ein glückliches, zufriedenes Leben?

Bernardy: Die wichtigste Zutat für ein erfülltes Leben besteht für die Stoiker darin, das Gute im eigenen Leben zur Entfaltung zu bringen, für sich und für andere. Dass man sich auf dem Weg zum guten Leben befindet, erkennt man am ehesten daran, dass Lebensfreude und die Erfahrung von tiefer Zufriedenheit, innerer Ruhe und Gelassenheit zunehmen.

Aber auch Begeisterung und intrinsische Motivation, das Brennen für die eigenen Lebensziele und den inneren Lebenssinn, macht für die Stoiker ein gutes Leben aus. Mit „Glück“ und dem Anspruch, ein „glückliches Leben“ zu führen, wäre ich vorsichtiger. Denn Glück und innere Ruhe sind für die Stoiker nur Nebenwirkungen eines guten Lebens. Oder anders ausgedrückt: Sie sind eher angenehme Begleiterscheinungen, aber nicht der Zweck oder Sinn des Lebens.

Ein Gegenpol zur Stoa ist ja die Philosophie des Epikur, der eher die Lebenslust und Freude in den Vordergrund stellte. Was sind die größten Unterschiede dieser beiden Sichtweisen aufs Leben? Was spricht beim Streben nach Glück Ihrer Meinung nach eher für die Stoiker?

 Bernardy: Hätte ich einen Wunsch frei und dürfte ich eine Zeitreise in die Vergangenheit machen, würde ich gerne ein paar Jahre bei den Epikureern in ihrem berühmten Garten am Rande von Athen leben, um zu erfahren, wie es dort damals wirklich war. Vielleicht können wir ihren „Community-Spirit“ aber auch heute noch ein wenig erleben, wenn wir beispielsweise in einen Ashram oder in ein Kloster gehen, ein Ayurveda-Retreat besuchen oder uns das Zusammenleben in einem Kibbuz anschauen.

Wir wissen ja heute, dass die epikureischen Kommunen im 5. und 6. Jahrhundert von den Christen übernommen und in Klöster umgewandelt wurden. Tatsächlich sind die Unterschiede zwischen Epikurs Philosophie und den Stoikern gar nicht so groß. Am meisten unterscheiden sich die beiden Schulen in ihrer Haltung gegenüber dem Engagement in der Öffentlichkeit und Politik.

Während Epikur dazu rät, sich aus dem öffentlichen Leben ins Private zurückzuziehen, stellen die Stoiker ihre Philosophie in den Dienst für den Menschen. „Mut“ und „Gerechtigkeit“ sind für sie wichtige Tugenden und sie gehen das Risiko ein, sich bei ihrem Engagement für das Gemeinwohl auch politisch zu verstricken.

Während Epikur vom Streben nach Macht, Anerkennung und Reichtum komplett abrät, geht es den Stoikern eher darum, innere Unabhängigkeit zu erlangen und gleichzeitig aber auch politische Verantwortung zu übernehmen. Denn sie wissen, dass ein gutes Leben auch eine Frage des Gemeinwohls und eine politische Aufgabe ist.

Bei Epikur geht es um ein möglichst angstfreies Leben und um die Steigerung der Lebenslust, indem man sich in Genügsamkeit, Bescheidenheit, Vernunft und innerer Zufriedenheit übt. Die Stoiker sprechen eher von innerer Lebensfreude und Heiterkeit, aber letztlich haben beide Denkschulen das gleiche Ziel: Sie wollen mit den rationalen Methoden der Philosophie ein besseres und gelasseneres Leben führen.

Für den stoischen Ansatz spricht, dass sich ihre Philosophie ganz praktisch im Alltag, im Beruf und mitten in der Hektik des ganz normalen Lebens anwenden lässt. Wir müssen uns nicht ins Private oder in eine kleine Gemeinschaft von Freunden zurückziehen, um stoisch zu leben. Die Prinzipien der Stoiker lassen sich auch in der Politik, in der Öffentlichkeit und in den sozialen Medien umsetzen.

Warum ist Gelassenheit gerade in der heutigen sehr stressbeladenen und von schnellen Veränderungen geprägten Zeit so wichtig für unser Lebensglück?

Bernardy: Eine der zentralen mentalen Übungen der Stoiker besteht darin, sich immer wieder bewusst zu machen, was wir kontrollieren können und was nicht. Was liegt in unseren Händen und was können wir beeinflussen? Was entzieht sich unserem Einfluss?

Je mehr unsere Gedanken um all die Dinge, Entwicklungen und Ereignisse kreisen, die wir nicht beeinflussen können, desto eher werden wir Gefühle von Ohnmacht, Frustration, Überforderung oder sogar Erschöpfung und Resignation verspüren. Wenn wir uns die Kreise unseres persönlichen Einflusses immer wieder vor Augen führen, können wir unseren Fokus auf die Dinge richten, die wir gestalten können und die uns wirklich wichtig sind.

Trainieren wir diese Perspektive täglich, stärken wir unsere Selbstwirksamkeit. Wir werden motivierter und erkennen unsere Gestaltungskraft, wie klein auch immer der Bereich sein mag, in dem wir einen Einfluss ausüben können. Je fokussierter wir uns auf das konzentrieren, was uns wirklich am Herzen liegt, desto eher können wir auch mit Stress und Veränderung umgehen.

Ganz wichtig ist die Erkenntnis, dass innere Ruhe und Gelassenheit selbst Prozesse sind, die sich permanent in uns wandeln. Gelassenheit ist kein Zustand, den wir einmal erreicht haben, sondern eine innere Haltung, die wir uns immer wieder neu erarbeiten und antrainieren können, je nach Lebensumständen, Situation und Lebensphase. Stoische Gelassenheit macht uns resistent und anpassungsfähig zugleich, zwei wesentliche Ressourcen im Umgang mit Stress und Wandel.

 

Interview mit Dr. Jörg Bernardy: „Der kleine Alltagsstoiker“

 

Inwiefern können uns dabei zweitausend Jahre alte Lebensregeln helfen?

 Bernardy: Dafür lohnt es sich, uns drei wichtige Grundsätze der Stoiker vor Augen zu führen:

  1. Der Mensch ist im Grunde gut.
  2. Nicht die Dinge selbst beunruhigen uns, sondern die Vorstellungen, die wir von ihnen haben.
  3. Es ist nicht entscheidend, was passiert, sondern wie wir damit umgehen.

Sobald wir vom Guten in uns ausgehen und das Gute in uns erkennen, können wir auch mehr und mehr das Gute in anderen sehen. Das bedeutet nicht, dass wir keine dunklen Seiten haben. Im Gegenteil, in der stoischen Selbsterkenntnis geht es darum, genau diese fiesen Flecken und Schattenseiten ans Licht zu bringen oder wie Epiktet schreibt:

„Du musst dir selbst auf die Schliche kommen, bevor du dich läutern kannst.“

Erst wenn wir bereit sind, uns auch unangenehmen Erkenntnissen und schmerzhaften Erfahrungen zu stellen, werden wir den tieferen Sinn der Existenz und der Menschen um uns herum verstehen. Um uns auf der Reise zu uns und zu den tieferen Schichten der Existenz nicht zu verlieren, geben uns die Stoiker zahlreiche Prinzipien, Regeln und Ideen mit auf den Weg. Sie helfen uns dabei, Klarheit, innere Stärke und emotionale Flexibilität zu erlangen.

Beim Lesen der Werke der Stoiker merkt man ziemlich schnell die inspirierende, klärende und beruhigende Wirkung, die von den Sätzen und Gedanken ausgehen. Am Ende sind es aber natürlich nur Wegweiser. Erst wenn wir sie verinnerlichen und auf unser persönliches Leben anwenden, können sie wirklich hilfreich sein.

Das bedeutet wiederum: Ein stoisches Leben verlangt viel Übung, Disziplin und die Bereitschaft, für die eigene Lebenszufriedenheit etwas zu tun. Es geht dabei immer um die richtige Mischung aus Loslassen und aktiver Tätigkeit. Am Ende können wir nur die Bedingungen für ein gutes Leben herstellen. Auf welche Weise es gelingt, ist immer auch eine Frage des (un)glücklichen Zufalls und der (un)glücklichen Umstände. In diesem Spannungsfeld bewegt sich die stoische Philosophie permanent.

Was liegt im Geheimnis der inneren Ruhe und wie können wir diesen Zustand erreichen? Was sollten wir vermeiden?

 Bernardy: Was wir in jedem Fall vermeiden sollten, ist, uns die innere Ruhe als einen Zustand vorzustellen, den wir permanent aufrechterhalten können. Das ist unmöglich. Ein gewisses Pensum an innerer Unruhe gehört zum Leben dazu.

Eines meiner Lieblingszitate von Epiktet lautet:

„Verlange nicht, dass das, was geschieht, so geschieht, wie du es wünschst, sondern wünsche, dass es so geschieht, wie es geschieht, und dein Leben wird heiter dahinströmen.“

Eine der wichtigsten Regeln für mehr innere Ruhe besteht in der Akzeptanz dessen, was ist. So simpel das klingt, auch die Psychologie bestätigt dies.

„Wenn wir Seelenfrieden und unseren Lebenssinn finden wollen, sollten wir aufhören, nach einem Ausweg zu suchen, und stattdessen nach einem Zugang zu unseren Problemen Ausschau halten“,

schreibt Steven C. Hayes, einer der renommiertesten Psychologen der Gegenwart und Professor für Psychologie. Er gilt als Begründer der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) und litt selbst unter einer starken Angststörung sowie heftigen Panikattacken.

„Kurswechsel im Kopf“ heißt sein Buch, in dem er auf knapp 500 Seiten seine Psychologie der Akzeptanz und Flexibilität darlegt. Ein wiederkehrendes Motiv darin ist, die eigenen Vermeidungsreaktionen zu identifizieren und nach und nach durch neues Fühlen und Verhalten zu ersetzen.

Laut Hayes neigen wir alle hin und wieder dazu, negativen Emotionen wie beispielsweise Angst, Wut, Trauer oder Ärger aus dem Weg zu gehen. Die Alternative dazu kann natürlich nicht sein, dass wir ihnen jederzeit unkontrolliert freien Lauf lassen. Ziel ist es vielmehr, ihr Aufkommen frühzeitig zu erkennen, zu akzeptieren und produktiv für sich zu nutzen.

Denn in jeder Emotion steckt auch eine Portion Lebenskraft, eine Sehnsucht, die wir erforschen können. Oder wie Seneca es als Vorläufer der modernen Verhaltenstherapie formuliert:

„Das beste Mittel gegen Zorn ist Aufschub; fordere von deinem Zorn anfänglich nicht, dass er verzeihe, sondern nur, dass er nachdenkt.“

Seneca zufolge sollen wir unsere negativen Emotionen also zum Nachdenken bringen. Stoische Philosophie und Psychologie kommen zur gleichen Antwort: der Weg zur inneren Ruhe geht weg von der Erlebnisvermeidung hin zur Akzeptanz innerer Erlebnisse.

Oberflächlich betrachtet haftet den Stoikern ja durch die starke Betonung von Ratio und Verstand gegenüber Emotionen eine gewisse Gefühlskälte an. Warum sollten wir nicht auch auf unser Herz, unsere Intuition und die damit verbundenen Gefühle hören?

 Bernardy: „Benutze deinen Kopf, um aus dem Herzen zu leben“, heißt es in einem der vielen Yogi-Teebeutel-Sprüche. Dieser Satz bringt die Ausrichtung der stoischen Philosophie ganz gut auf den Punkt. Ich denke, dass sich Ratio und Herz nicht ausschließen. Unsere Intuition und unsere Gefühle wären höchst unzuverlässige Quellen, wenn wir sie nicht reflektieren und rational verstärken.

Es braucht schon ein wenig mentale Kraft, um die berühmte innere Stimme zu identifizieren und sie zur Entfaltung zu bringen. Wir müssen uns mit unseren inneren Stimmen aktiv verbinden und mit ihnen kommunizieren, damit sie zu guten Freunden werden.

Mit Ihrer Frage spielen Sie wahrscheinlich auf die beiden berühmtesten Ideale der Stoiker an: Seelenruhe und Leidenschaftslosigkeit. Ataraxia ist das griechische Wort für Seelenruhe, das auch gerne mit Unerschütterlichkeit übersetzt wird. Kaum etwas hat das Bild vom stoischen Weisen mehr geprägt. Ein Ideal, das übrigens nicht nur von den Stoikern propagiert wurde, sondern ebenso von Epikur. Seelenruhe meint hier vor allem die Abwesenheit von Schmerz und einen klugen Umgang mit den eigenen Trieben und Gemütserregungen.

Apatheia heißt übersetzt „Leidenschaftslosigkeit“ und bezeichnet das stoische Ideal von der Beherrschung von momentanen, intensiven und allzu impulsiven Gefühlsregungen. Im Zustand der Apatheia befreit sich der stoische Weise von seinen Leidenschaften, das heißt, er reguliert seine Emotionen und entscheidet sich im Zweifelsfall gegen sie. Wie ein Fels in der Brandung trotzt er auch den widrigsten Bedingungen.

Diese Affektbeherrschung wird manchmal mit Gleichgültigkeit, emotionaler Kälte oder Abgestumpftheit gleichgesetzt. Gemeint ist aber vielmehr eine innere Unabhängigkeit von den eigenen Affekten und Emotionen, bei der Begeisterung, Milde, Lebensfreude und Freundlichkeit eine genauso große Rolle spielen wie Disziplin, Konsequenz, Nüchternheit und innere Stärke. Im Grunde ist die stoische Philosophie in weiten Teilen ein Training in emotionaler Intelligenz.

 

Interview mit Dr. Jörg Bernardy: „Der kleine Alltagsstoiker“

 

Ein Kapitel Ihres Buches trägt den Titel „Die Macht der Liebe“. Wie können wir Beziehungen nach Lehre der Stoa dauerhaft und wertschätzend gestalten? Inwiefern kann der Stoiker hier Gefühle zulassen?

 Bernardy: Das aktive Zulassen und Reflektieren der eigenen Gefühle ist ein wesentlicher Bestandteil der stoischen Selbsterkenntnis. Dieses Kapitel war ein wirkliches Experiment, weil es sehr wenig Literatur dazu gibt. Die Themen Liebe und Partnerschaft wurden bisher selten bis gar nicht mit der stoischen Philosophie in Verbindung gebracht. Und natürlich musste ich hierfür sehr viel Wissen aus der Psychologie und Beziehungsforschung ergänzen. Außerdem habe ich bei „The School of Life Berlin“ sehr viel Erfahrung in Workshops zu den Themen Beziehung, Partnerschaft und Lebensglück gesammelt.

Wie kann man also die stoische Philosophie auf die Liebe und die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen anwenden? Wenn man zum Beispiel die „Selbstbetrachtungen“ von Marc Aurel liest, lässt sich der Text an vielen Stellen als Beziehungsratgeber lesen. Für die Stoiker sind dabei die freundschaftlichen Beziehungen genauso wichtig wie unsere intimen Liebesbeziehungen.

„Wenn du geliebt werden willst, liebe“,

heißt es an einer Stelle bei Seneca. Und tatsächlich könnte es kein besseres Motto für den stoischen Ansatz geben. Für sie zählt der Akt des Liebens mehr als das Geliebtwerden. Dazu gehört auch, dass wir unsere verletzlichen Seiten teilen und uns in Selbstmitgefühl üben. Jede Beziehung ist einerseits auf Empathie und Wertschätzung für unser Gegenüber angewiesen, andererseits benötigen wir auch genügend Selbstwertschätzung und Selbstliebe.

Für dauerhafte Beziehungen ist es letztlich unvermeidlich, dass wir Liebe nicht nur als Bewunderung von Stärke verstehen, sondern auch als Vergeben von Schwächen praktizieren.

Wie wichtig ist der Stoa ein echter Sinn im Leben, was macht ihn aus und vor allem, wie können wir ihn finden?

 Bernardy: Tatsache ist, dass es für die Stoiker ein höheres und harmonisches Prinzip im Kosmos gibt. Dieses Prinzip nennen sie „Sympatheia“. Es zieht sich durch die gesamte Existenz hindurch und verbindet alles mit allem. Wenn wir heute von der Erfahrung und Erkenntnis sprechen, dass alles mit allem zusammenhängt, dann ist dies auch eine zutiefst stoische Erfahrung, die bereits vor 2.300 Jahren gemacht wurde.

Andererseits geht es für die Stoiker im Leben darum, gemäß der eigenen Natur zu leben. Dazu müssen wir uns selbst erkennen und uns ein Umfeld schaffen, das die Suche nach dem Sinn des Lebens fördert. Oder wie Marc Aurel es ausdrückt:

„Ein Mensch, der nicht weiß, was das Universum ist, weiß nicht, wo er ist. Ein Mensch, der den Zweck seines Lebens nicht kennt, weiß nicht, wer er ist, und auch nicht, was das Universum ist. Ein Mensch, der keins von beidem weiß, weiß auch nicht, warum er existiert. Was soll man also mit Menschen machen, die die Anerkennung von jenen Menschen suchen oder meiden, die nicht wissen, wo und wer sie sind?“

Die Stoiker meinen also, dass es objektive Kriterien für den Sinn im Leben gibt. Wir müssen sie nur erkennen – und danach leben. Erst dann erfüllen wir für die Stoiker den Zweck unseres Lebens: jeden Tag ein guter Mensch zu werden.

Ihr Buch ist auch praxisbezogen und enthält konkrete Impulse und Übungen. Können Sie ein Beispiel dafür geben?

 Bernardy: Dem Verlag und auch mir war es wichtig, die philosophischen Ideen mit ganz konkreten Anregungen und Impulsen erfahrbar zu machen. Denn tatsächlich gibt es eine Fülle an Möglichkeiten, wie man die stoische Philosophie ganz praktisch auf den eigenen Alltag anwenden kann.

Wir können zum Beispiel über die eigene Vergänglichkeit nachdenken und darüber, dass alle Dinge und Lebewesen auf dieser Welt einen Anfang und ein Ende haben. Auch das bewusste Erleben des gegenwärtigen Augenblicks lässt sich trainieren. Eines meiner Lieblingszitate hierzu stammt von Marc Aurel:

„Richte deine ganze Aufmerksamkeit immer auf das Gegenwärtige, sei’s eine Ansicht, eine Handlung oder ein Ausdruck.“

Daran lässt sich sehen, dass die heutige Achtsamkeitskultur bereits in der stoischen Philosophie angelegt ist. Sie ist sozusagen ihr Vorläufer und liefert ein wichtiges kulturelles Fundament.

Ein einfacher Impuls aus meinem Buch, der auch in meinen Workshops immer wieder gut ankommt, heißt „Das Schöne in jedem Menschen sehen“ und geht so:

„Suchen Sie einen Ort, an dem viele Menschen vorbeikommen. Beobachten Sie Ihre Mitmenschen genau und achten Sie bewusst auf ihre Gesichter. Versuchen Sie, etwas Schönes in ihnen zu entdecken. Und zwar unabhängig davon, ob Ihnen persönlich gefällt, was Sie dort sehen. Laut Platon ist Schönheit etwas unveränderlich Gegebenes und diese Idee der Schönheit spiegelt sich in jedem Menschen wider. Indem Sie Ihre Fähigkeit trainieren, das Schöne in jedem Menschen zu sehen, stärken Sie auch Ihre Verbundenheit mit allen Menschen – und damit eine stoische Haltung.“

 

Interview mit Dr. Jörg Bernardy: „Der kleine Alltagsstoiker“

Literaturhaus Hamburg, Veranstaltung „Gedankenflieger“

Wie kam es zu Ihrem beruflichen Interesse für Philosophie? Was waren die wichtigsten Meilensteine auf Ihrem Weg? Wie sieht Ihr Arbeitsleben heute als Philosoph, freier Autor und Speaker aus? Was treibt Sie an?

 Bernardy: Mit 17 Jahren habe ich zum ersten Mal Senecas Buch „Vom glücklichen Leben“ gelesen. Damals habe ich viel Theater gespielt und über den Sinn des Lebens nachgedacht. Ebenso haben mich die Bücher und Gedanken von Sartre, Camus und Nietzsche fasziniert.

Ich bin jemand, der gerne hinterfragt, zweifelt, ausprobiert, nach Fragen und Antworten, Widersprüchen und Perspektiven sucht. Irgendwo in mir steckt auf jeden Fall ein Existenzialist, ein Zweifler, ein Träumer und ein strategischer Pessimist, aber eben auch ein Optimist, der sich für die Verbindung von Theorie und Praxis interessiert.

Genau das treibt mich an, seit ich denken kann. Ich versuche die Welt der Vorstellungen, Gefühle, Gedanken und kreativen Ideen irgendwie in das Leben und in den Alltag zu bringen. Ob beim Meditieren, Reden, Schreiben, Gehen oder beim Philosophieren. Neue Verbindungen zwischen Gedanken und Menschen zu schaffen, aber auch neue Erkenntnisse und Erfahrungen zu ermöglichen, erlebe ich als zutiefst sinnerfüllend.

Als Sachbuchautor, Speaker und Workshop-Leiter arbeite ich mit Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern zusammen, was meinen Horizont enorm erweitert hat und bis heute für eine überraschende Wachstumskurve sorgt. Auch „The School of Life Berlin“ ist ein wundervolles Projekt, das seit Corona verstärkt virtuell Fuß gefasst hat, und ich bin sehr dankbar, dass wir es im deutschsprachigen Raum als feste Institution etablieren konnten.

Als besonders intensiv und entwicklungsfördernd erlebe ich die mehrtägigen Summer- und Winterschools. Die gesellschaftlichen Aufgaben und Möglichkeiten für freie Philosophen und philosophische Berater waren vielleicht nie interessanter und notwendiger als heute. Aktuell arbeite ich zum Beispiel mit einem künstlerischen und internationalen Team daran, ein philosophisches Theaterstück mit Kindern an mehreren renommierten deutschsprachigen Staatstheatern zu ermöglichen.

Ebenso begleite ich Teams größerer Unternehmen bei ihren Change-Prozessen. Ich hoffe, dass sich Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft noch mehr für Input, Anregungen und das Wissen aus der Philosophie öffnen.

Was ist für Sie persönlich der Sinn des Lebens?

 Bernardy: Darauf kann ich keine abschließende Antwort geben. Für mich persönlich lässt sich der Sinn des Lebens letztlich nicht rational verstehen. Wir haben als Menschen aber etwas von der Bedeutung des Lebens verstanden, wenn wir über die eigene Existenz hinausdenken können.

Ein Beispiel: Jemand, der heute einen jungen Baum pflanzt, mit dem Bewusstsein, dass man es selbst vielleicht gar nicht mehr erleben wird, wenn der Baum groß und ausgewachsen ist, hat etwas über den Sinn des Lebens verstanden. Es gibt also Kräfte, Zusammenhänge und Sinndimensionen, die größer sind als wir.

Ein Sinn des Lebens ist für mich nur dann denkbar, wenn ich dem Unerwarteten, Unberechenbaren und Unbegreiflichen einen Raum gebe. Jeder Sinn des Lebens lässt sich letztlich nur persönlich und individuell erfahren. Er kann nicht allgemein oder endgültig sein. Ich glaube nicht an abschließende oder objektive Erklärungsmodelle, wenn es um den Sinn des Lebens geht.

Das heißt, im Herzen bin ich wahrscheinlich gar kein echter Stoiker. Ich teile aber ihren unerschütterlichen Optimismus, der sich vor allem in der stoischen „Liebe zum Schicksal“ ausdrückt: Alles im und am Leben zu bejahen und zu lieben, unabhängig davon, ob es gut oder schlecht für uns ist.

 

Das Interview führte Markus Hofelich.

Bilder: Dr. Jörg Bernardy, Martina Klein, Max Baier, Gräfe und Unzer Verlag

 

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Dr. Jörg Bernardy: „Der kleine Alltagsstoiker“

 

 

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