Interview mit Prof. Gerald Hüther: „Die Generation Y auf der Suche nach dem Sinn – wie es gelingt, Orientierung zu finden“

by Hofelich
Foto von Gerald Huether

Der Generation Y bieten sich wie kaum einer Generation vorher beste Chancen einen Lebensweg zu finden, der genau zu den individuellen Talenten passt und somit die beste Basis für die persönliche Entfaltung bietet. Die „Millennials“ sind aufgewachsen in einer Welt überbehüteter Elternhäuser, des Wohlstands, vielfältiger Bildungswege und konnten als „Digital Natives“ von klein auf die Vorteile von Internet, Smartphones und sozialen Netzwerken nutzen. Doch die Fülle an Optionen und Möglichkeiten in einer immer komplexeren, von Digitalisierung und Vernetzung geprägten Welt erzeugen bei der „Generation Why“ Ohnmacht und Orientierungslosigkeit bei der Suche nach dem idealen Weg.

Der Neurobiologe und Bestseller-Autor Prof. Gerald Hüther zeigt in seinem aktuellen Buch „Würde: Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft“ effektive Lösungen auf. Im Interview erklärt Hüther, wie es der Generation Y gelingen kann, Sinn und Orientierung zu finden, welche Rolle dabei die Würde als Wertekompass spielt und wie wir unsere Potenziale entfalten können.

Herr Prof. Hüther, was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für die weit verbreitete Orientierungslosigkeit in der heutigen Gesellschaft, insbesondere bei der Generation Y?

 

Interview mit Prof. Gerald Hüther: „Die Generation Y auf der Suche nach dem Sinn – wie es gelingt, Orientierung zu finden“

 

Hüther: Es sind ja nicht alle Menschen in unserer Gesellschaft orientierungslos. Aber fast alles, woran sich die Älteren bisher orientiert haben – Geld verdienen, um sich etwas leisten zu können, Karriere zu machen, den einmal erlernten Beruf zeitlebens in ein und demselben Betrieb nachzugehen, sich einer Partei anzuschließen und die zu wählen, die Tagesschau am Abend einschalten und die Tageszeitung lesen – hat für die Jüngeren seine Bedeutung verloren.

Die suchen sich nun die Maßstäbe für ihre eigene Lebensgestaltung woanders. In sozialen Netzwerken, im Internet, vielen fällt es auch in unserer gegenwärtigen Multioptionsgesellschaft auch schwer, etwas zu finden, wofür sie sich dann entscheiden, manche suchen ihr Heil in der Selbstoptimierung und andere in der Verweigerung, so weiterzumachen wie ihre Eltern.

Warum ist unser hierarchisches Ordnungssystem heute nicht mehr geeignet, unser Zusammenleben wirksam zu steuern?

Hüther: Hierarchien waren lange Zeit geeignet, um das Zusammenleben und die Aktivitäten von Menschen in einigermaßen geordneten Bahnen ablaufen zu lassen. Und sie stellten sicher, dass sich alle anstrengten, um ihre Positionen zu behaupten oder darin aufsteigen zu können. Durch die vielen Entdeckungen, Erfindungen und Neuerungen, die dabei über viele Generationen hinweg gemacht worden sind, ist unsere Lebenswelt immer komplexer geworden.

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Die Welt in der wir heute leben, ist so bunt und vielseitig geworden, globalisiert und digitalisiert und alles, was in dieser Welt geschieht ist so stark voneinander abhängig geworden, dass sich diese tradierten Ordnungssysteme nun als zunehmend ungeeignet erweisen, unser Zusammenleben auch weiterhin einigermaßen effizient zu steuern. Sie sind zu starr und werden in vielen Bereichen sogar hinderlich für weitere Entwicklungen. So ist eine starke Verunsicherung in der Bevölkerung entstanden und damit auch der Ruf nach einer Wiederherstellung der alten hierarchischen Ordnungsstrukturen.

 

Interview mit Prof. Gerald Hüther: „Die Generation Y auf der Suche nach dem Sinn – wie es gelingt, Orientierung zu finden“

 

Viele Menschen haben erkannt, dass das was sie tun nicht dazu beiträgt, glücklich zu werden und ihre Talente und Begabungen zu entfalten. Warum ist das so und wie können wir es schaffen, unsere Potenziale zu erkennen und zu verwirklichen?

Hüther: In jedem hierarchischen System werden zwangsläufig diejenigen, die auf den unteren Stufen gelandet sind, von jenen, die weiter oben positioniert sind, zu Objekten von deren Erwartungen, Belehrungen, Anordnungen und Maßnahmen gemacht. Seine Talente und Begabungen entfalten kann aber nur jemand, der sich als Subjekt, als Gestalter im eigenen Tätigsein und im Zusammenleben mit anderen erlebt.

Wir kommen ja alle als kleine Potenzialentfalter zur Welt und müssen dann aber erleben, dass andere Personen uns sagen oder auf andere Weise deutlich machen, was sie von uns erwarten, was wir zu lernen, zu tun und zu lassen haben. So fangen wir an, uns in uns selbst und im Zusammenleben mit diesen anderen immer stärker zu verwickeln. Manche erkennen das irgendwann, weil sie merken, dass sie so nicht glücklich werden.

Einige versuchen sich aus diesen Verstrickungen wieder zu befreien, sich also zu ent-wickeln. Andere finden sich aber auch damit ab und geben auf, ein selbstbestimmtes und selbstverantwortliches Leben zu führen. Was ihnen dann noch bleibt und worum sie sich bemühen, ist die Stabilisierung des Bestehenden, also Besitzstandwahrung.

 

Interview mit Prof. Gerald Hüther: „Die Generation Y auf der Suche nach dem Sinn – wie es gelingt, Orientierung zu finden“

 

Im März ist Ihr aktuelles Buch mit dem Titel „Würde: Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft“ erschienen. Darin zeigen Sie als wichtige Lösungsmöglichkeit auf, ein Bewusstsein der eigenen Würde als Wertekompass für unser Handeln zu entwickeln. Was bedeutet Würde in diesem Zusammenhang und inwiefern kann sie uns helfen, Orientierung im Leben zu finden?

Hüther: Wenn Hierarchien ihre ordnungsstiftende Kraft verlieren, stellt sich ja die Frage, wie Menschen ihr Zusammenleben gestalten sollen, wenn ihnen niemand mehr sagt, was sie zu tun und zu lassen haben. Wenn der Maßstab für das eigene Handeln nicht mehr von außen, also durch übergeordnete Autoritäten und Führungspersonen vorgegeben wird, müssten die Menschen einen solchen Maßstab von Innen, aus sich selbst heraus ausbilden.

Er müsste so beschaffen sein, dass er ihnen – ähnlich wie ein innerer Kompass – dabei hilft, ihr jeweiliges Denken, Fühlen und Handeln so auszurichten, dass ein fruchtbares Zusammenleben möglich wird. Dieser innere Kompass wäre dann die Vorstellung und das Bewusstsein seiner eigenen Würde.

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Was zeichnet Menschen aus, die sich ihrer Würde bewusst sind?

Hüther: Wer seine eigene Würde bewahren will, benutzt andere Menschen nicht wie Objekte zur Durchsetzung seiner Ziele und Absichten, und der stellt sich auch anderen nicht mehr als Objekt zur Verfügung, wenn sie ihn für ihre Zwecke benutzen wollen.

Wie können wir das Bewusstsein für die eigene Würde wiedererlangen?

Hüther: Mit klugen Ratschlägen oder auch mit großer Überredungskunst wird man niemand helfen können, sich seiner eigenen Würde bewusst zu werden. Mit den üblichen Dressurmethoden von Belohnung und Bestrafung erst recht nicht.

Möglich wird das nur, wenn eine Person eine wichtige Erfahrung macht, die sie wieder mit sich selbst in Berührung bringt. Wenn sie wieder in Kontakt mit etwas kommt, was bisher tief in ihrem Gehirn vergraben war.

Wie wichtig sind Gefühle für diesen Änderungsprozess?

Hüther: Das Gefühl, dass jemand spürt, der diesen bisher abgespaltenen und verschütteten Anteil in sich selbst wiederzufinden beginnt, heißt Berührung. Wer sich nicht darauf einlassen kann, dem geht dann die betreffende Erfahrung nicht wirklich unter die Haut. Der macht dann einfach so weiter wie bisher, bei dem ändert sich dann auch nichts im Hirn.

Warum sind die Wiederentdeckung des Gefühls und die Bewusstwerdung der eigenen Würde mit dem Streben nach Anerkennung und Erfolg unvereinbar?

Hüther: Solange jemand weiter nach Anerkennung sucht und in den Augen der anderen als erfolgreich erscheinen will, bleibt eine solche Person von der Bewertung durch andere abhängig. Sie oder er macht sich daher weiter zum Objekt der Vorstellungen anderer. Und das ist mit der Wahrung seiner Würde unvereinbar.

 

Interview mit Prof. Gerald Hüther: „Die Generation Y auf der Suche nach dem Sinn – wie es gelingt, Orientierung zu finden“

 

Was spricht aus Sicht der Neurobiologie für die Wirksamkeit Ihres Ansatzes?

Hüther: Jedes lebende System muss dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik folgen und die Beziehungen seiner Konsumenten so lange verändern, bis ein Zustand erreicht ist, in dem der zur Aufrechterhaltung seiner Integrität, also seiner Struktur und seiner Funktion notwendige Energieaufwand so gering wie möglich ist. Diesen Zustand, in dem alles möglichst gut aufeinander abgestimmt ist, also alles passt, nennen die Biologen Kohärenz.

In sozialen Systemen ist die Herausbildung einer hierarchischen Ordnung zunächst kohärenzstiftend. Wenn die von diesem System erzeugten Veränderungen dann allerdings so groß werden, dass sich die Hierarchie als nicht länger kohärenzstiftend erweist, bleibt dann eigentlich nur noch diese eine Option: die Stärkung der Vorstellung und des Bewusstseins der eigenen Würde als innerer Kompass für die Gestaltung des Zusammenlebens der Menschen im posthierarchischen Zeitalter.

Warum ist es so wichtig, sich mit dem Sinn des Lebens zu befassen?

Hüther: Ohne eine Vorstellung davon, was für ein Mensch ich sein will und wofür ich dieses mir geschenkte Leben einsetzen, wie und wozu ich mein Leben nutzen will, verlieren wir uns über kurz oder lang in einer energieaufwändigen, inkohärenten Orientierungslosigkeit. Dann wird man allzu leicht zum Spielball all jener, die solche Menschen als Objekte für die Realisierung ihrer jeweiligen Interessen und Absichten zu nutzen versuchen: Werbestrategien, Meinungsmacher oder wie immer diese Verführer sich nennen.

Was ist für Sie der objektive Sinn des Lebens?

Hüther: Objektiv, sagen uns die Astrophysiker, gibt es keinen Sinn. Aber ohne seinem eigenen Dasein, einen (subjektiven) Sinn zu verleihen, können wir nicht leben. Wir brauchen eine über unser individuelles Dasein hinausreichende Orientierung.

Welche Ziele verfolgen Sie mit der von Ihnen gegründeten Akademie für Potentialentfaltung?

Hüther: Die Akademie für Potentialentfaltung ist eine gemeinnützige Genossenschaft. Wir versuchen an konkreten Beispielen deutlich zu machen, wie die aus der Neurobiologie und anderen Disziplinen gewonnenen Erkenntnisse über ein gelingendes Zusammenleben von Menschen in Gemeinschaften umgesetzt werden können.

Da wir Menschen zutiefst soziale Wesen sind, können wir die in uns angelegten Potentiale auch nur in einer Gemeinschaft mit anderen zur Entfaltung bringen. Die in unserer bisherigen hierarchisch geordneten Wettbewerbsgesellschaft entstandenen Gruppierungen sind dafür ungeeignet. Wie es auch anders und viel besser gehen kann, versuchen wir zu demonstrieren (siehe hierzu das Buch „Wie Träume wahr werden. Das Geheimnis der Potentialentfaltung, Goldmann 2018).

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Zuletzt haben Sie mit dem Würdekompass eine Initiative zur Stärkung der menschlichen Würde ins Leben gerufen. Dabei geht es nicht um Theorie, sondern um die praktische Anwendung im täglichen Zusammenleben. Welcher Ansatz steckt dahinter?

Hüther: Eine von mehreren Initiativen der Akademie verfolgt das Ziel, das Bewusstsein der Würde im täglichen Leben und im Zusammenleben von Menschen vor Ort zu stärken. Wir unterstützten zu diesem Zweck die Herausbildung und die praktische Arbeit von sog. Würdekompass-Gruppen in Städten und Gemeinden. Inzwischen sind überall im Land, auch in Österreich und der Schweiz, mehr als 100 solcher Würdekompass-Gruppen entstanden (www.wuerdekompass.de).

Was treibt Sie an? Wo nehmen Sie die Kraft her für die zahlreichen Auftritte, Vorträge, Bücher?

Hüther: Wenn jemand etwas tut, das ihm wirklich am Herzen liegt, braucht er dafür eigentlich keine besondere Kraft. Es ist viel leichter, als etwas zu machen, was man selbst gar nicht will.

Welche wichtigen Punkte stehen demnächst auf Ihrer Agenda?

Hüther: Ich habe keine Agenda mit Prioritäten, sondern ich versuche all das, was ich mache mit voller Hingabe und größtmöglicher Präsenz umzusetzen. Das gilt für jeden Vortrag, den ich halte, aber auch für jeden Nachmittag, den ich mit einem unserer Enkelkinder verbringe.

Was ist Ihr persönlicher subjektiver Sinn des Lebens?

Hüther: Ich versuche so gut es geht, dazu beizutragen, dass unser wundervoller Planet und die Vielfalt der hier entstandenen Lebensformen nicht weiter von allzu vielen vorübergehend irregeleiteten Vertretern unserer Spezies zugrunde gerichtet wird.

Das Interview führte Markus Hofelich.

 

Zur Person: Prof. Gerald Hüther

Interview mit Prof. Gerald Hüther: „Die Generation Y auf der Suche nach dem Sinn – wie es gelingt, Orientierung zu finden“

 

Gerald Hüther ist Biologe und war als Prof. für Neurobiologie in Forschung und Lehre an der Universität Göttingen tätig. Als Sachbuchautor und mit seinen Beiträgen in den Medien ist er zu einem bekannten Verbreiter neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in der Öffentlichkeit geworden. Er ist Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung.

 

Weitere Informationen unter:     www.gerald-huether.de

 

Bilder: Gerald Hüther: Franziska Hüther / Cover: Verlag Random House / Weitere: Unsplash 

 

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