Kilian Trotier ist Journalist bei der ZEIT und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den großen Fragen des Lebens. Gemeinsam mit der Psychologin und Pionierin der empirischen Sinnforschung Tatjana Schnell hat er das Buch „Sinn finden: Warum es gut ist, das Leben zu hinterfragen“ veröffentlicht. Darin gehen die beiden der Frage nach, wie wir in einer Welt voller Krisen, Umbrüche und Unsicherheiten Sinn entdecken und ein Leben gestalten können, das trägt. Im Interview spricht Kilian Trotier darüber, welche Quellen Sinn im Leben spenden, warum die Suche danach Mut erfordert und weshalb jeder Mensch heute Verantwortung für sein eigenes Sinnverständnis übernehmen muss.
Herr Trotier, was hat Sie dazu bewogen, das Buch zusammen mit Tatjana Schnell zu schreiben? Wie ergänzen Sie sich beide als Autoren? Was ist die Kern-Aussage und für wen ist es vor allem geeignet?
Trotier: Im Jahr 2021 gründeten wir bei der ZEIT ein Ressort, das wir „Sinn“ nannten. Für meine ersten Texte recherchierte ich, wer sich wissenschaftlich mit diesem Thema beschäftigt. So stieß ich auf die Psychologieprofessorin Tatjana Schnell, die seit Beginn des Jahrtausends erforscht, worin die Menschen in Deutschland ihren Sinn sehen. Das fand ich spannend und ich kontaktierte sie. Zunächst zitierte ich sie in meinen Artikeln, dann schrieb sie für die ZEIT in einer eigenen Kolumne über die großen Sinnfragen, und schließlich widmeten wir uns gemeinsam in einer siebenteiligen Serie der Frage, wie man Sinn im Leben findet. Das war die Grundlage für unser Buch. In unserer Zusammenarbeit ist es uns wichtig, dass wir so verständlich wie möglich schreiben, um alle Menschen einzuschließen, die sich für die existenziellen Fragen des Lebens interessieren. Weil wir beide uns sicher sind, dass es sich lohnt, sich und die eigenen Überzeugungen zu hinterfragen – um so zu leben, wie es einem wirklich entspricht.
Im Vorwort betonen Sie: „Wir schreiben über den Sinn, den Menschen in ihrem Leben sehen. Also den Sinn im Leben. Nicht den Sinn des Lebens.“ Was ist der Unterschied zwischen den beiden Sinn-Dimensionen?
Trotier: Der Sinn des Lebens ist ungewiss. Wer könnte von sich behaupten, zu hundert Prozent sicher zu sein, ihn gefunden zu haben? Denn bei dieser Frage geht es um das große Ganze: Folgt unser Dasein einem Plan? Gibt es einen Gott? Der Sinn im Leben unterscheidet sich davon fundamental. Bei ihm geht es um den ganz subjektiven Blick auf das eigene Ich und die Frage: Was ist mir wichtig und nach welchen Überzeugungen richte ich mich aus?
Warum haben Sie sich dafür entschieden, sich in diesem Buch auf den „Sinn im Leben“ zu fokussieren?
Trotier: Ich selbst bin gläubig. Aber das ist nicht die Motivation für das Buch. Es ging Tatjana Schnell und mir darum, anhand ihrer Forschungsergebnisse und meiner Interviews mit Prominenten und Nicht-Prominenten über den Sinn einen gedanklichen Weg aufzuzeichnen für all jene, die sich mit der Frage beschäftigen, was sie vom Leben wirklich wollen.
Viele Menschen suchen gerade in Krisenzeiten nach Sinn. Was sind die Gründe dafür? Welche Rolle spielt die Auseinandersetzung mit Leid und Brüchen im Leben für die eigene Sinnfindung?
Trotier: Man muss nicht nach Sinn suchen, um ihn zu haben. Viele denken nicht darüber nach, leben ihn aber voll aus. Doch in Krisenzeiten kommen die Fragen häufig auf den Tisch. Wenn etwas bricht, schwinden Gewissheiten. Wie geht es weiter mit einer schweren Diagnose? Nach einer Trennung? Nach dem Tod eines geliebten Menschen? Durch diese oder ähnliche Ereignisse wird man gezwungen, sich neu zu sortieren oder gar neu zusammenzusetzen. Da kommen die Fragen nach dem Sinn in vielen hoch: Warum tue ich eigentlich, was ich tue? Könnte mein Leben nicht ganz anders aussehen? Ja, sollte es nicht ganz anders aussehen?
Im Buch betonen Sie die Bedeutung der Selbstkenntnis: „Wer Sinn im Leben finden will, muss sich selbst kennen.“ Welche Schritte helfen aus Ihrer Sicht, diesem Ziel näherzukommen?
Trotier: Sich selbst zu kennen, ist die Basis. Nur wer weiß, was einem etwas bedeutet und gut tut, kann versuchen, sich mehr und mehr danach auszurichten. Die psychologische Forschung hat dazu einige Erkenntnisse gesammelt. Ganz grundlegend sind wir Menschen Geschichtenerzähler: Jede und jeder von uns kreiert eine Geschichte des eigenen Seins – ob bewusst oder unbewusst. Diese Geschichte ist nicht vorgegeben, wir können sie gestalten. Hat man das Gefühl, dass es vor allem die Eltern waren, die einem die Wege vorgezeigt haben, muss das nicht so bleiben. Hat man das Gefühl, man war immer vom Pech verfolgt, muss das auch nicht so bleiben. Natürlich sind wir immer eingebunden in eine Umgebung, in der es auch manche Zwänge gibt. Aber allein die Erkenntnis, dass wir handeln können, kann befreien. Mir liegt dann noch das bekannteste Modell der Persönlichkeitspsychologie am Herzen, die Big Five: Wie aufgeschlossen bin ich Neuem gegenüber? Wie sorgfältig bin ich? Wie lebhaft? Wie sehr nehme ich Rücksicht auf andere? Wie emotional empfindlich bin ich? Diese Fragen bilden ein Raster, mit dessen Hilfe man sich einordnen und seinen eigenen Charakter besser verstehen lernt. Daraus wiederum lassen sich Rückschlüsse darauf ziehen, was einem guttut und was nicht.
Ein zentrales Thema Ihres Buches ist die Unterscheidung von Sinn und Glück. Wie unterscheiden sich beide Begriffe vor allem? Warum ist das Streben nach Glück allein so riskant? Und wie kann Sinn dabei Orientierung geben?
Trotier: Nach Glück streben alle. Es ist ja auch ein herrliches Gefühl. Aber es ist eben das: ein Gefühl, noch dazu ein flüchtiges. Wenn eine Gesellschaft aber das Glück als höchstes Gut ansieht, das es möglichst dauerhaft zu empfinden gilt, haben wir ein Problem. Denn das kann niemand hinbekommen. Und wenn es niemand hinbekommt, es aber von außen erwartet wird, empfinden wir etwas, das die Forschung „Glücksschuld“ nennt – wir fühlen uns schuldig, dass wir uns nicht glücklich fühlen. Die Situation ist nicht leicht zu lösen in einer Welt, in der viele auf die Frage „Wie geht’s dir?“ reflexhaft mit „alles gut“ antworten, auch wenn gar nicht alles gut ist. Das Verständnis von Sinn kann dabei aber eine Richtschnur sein. Die Forschungen zeigen nämlich: Wer Sinn in seinem Leben sieht, lebt auch glücklicher. Denn sie oder er empfindet Momente intensiver und stimmiger als Menschen, die keinen Sinn in ihrem Leben sehen. Sinn entsteht, wenn wir das Empfinden haben, die verschiedenen Dimensionen unseres Lebens miteinander in Einklang zu bringen. Ist das der Fall, sind wir offener, eine tiefe Dimension des Glücks zu fühlen.
Ein Kapitel Ihres Buches trägt den Titel „Worin kann ich Sinn finden“. Was sind die größten Kraftquellen und die größten Sinnstifter?
Trotier: Tatjana Schnell hat das über Jahrzehnte erforscht. Der größte Sinnstifter ist dabei immer gleich geblieben, er heißt Generativität. In dem Wort steckt die „Generation“, und darum geht es auch. Um es mit den Worten des Entwicklungspsychologen Erik Erikson zu sagen: Es geht darum, die Liebe in die Zukunft zu tragen. Das kann über die eigenen Kinder funktionieren, aber es geht auch in Kultur, im Sport, in der Politik, wo immer man sich engagiert. Generativität ist eine von vielen Sinnquellen, wie Tatjana Schnell sie nennt – Quellen, weil wir Menschen zu ihnen gehen und aus ihnen schöpfen. Das Spannende ist, dass diese Quellen total unterschiedlich sind. Die einen schöpfen ihren Sinn aus Macht, die anderen aus Tradition, wiederum andere aus Religiosität oder Harmonie. Man erkennt daran sehr schnell, dass Sinn komplett subjektiv ist.
Sie schreiben, dass die Kirchen heute nicht mehr das Monopol auf Sinn haben und jeder selbst Verantwortung übernehmen muss. Welche Chancen und Herausforderungen sehen Sie in dieser neuen Freiheit?
Trotier: Die Chance ist, dass jede und jeder selbstbestimmt auf die Suche nach dem Sinn gehen kann. Er ist in unserem Land nicht mehr gesellschaftlich vorbestimmt. Niemand nimmt einem ab, ihn selbst für sich zu bestimmen. Das kann eine Befreiung sein – aber auch eine Herausforderung. Denn gleichzeitig bettet die Kirche ja auch ein. Sie begleitet ihre Mitglieder von der Wiege bis zur Bahre und predigt ein Weltbild, das in sich konsistent ist und Trost spendet.
Wenn jemand nach der Lektüre Ihres Buches Lust bekommt, sich aktiv auf die Sinnsuche zu begeben – welcher erste Schritt wäre aus Ihrer Sicht der wichtigste?
Trotier: Wir sprechen gerade schon davon: Jede Suche beginnt bei einem selbst. Was ist mir wichtig? Welche Werte sind zentral für mich? Ich kann mich nur auf den Weg machen, wenn ich mich kenne, mit meinen Ängsten, Sorgen, Hoffnungen und Wünschen. Darauf kann ich aufbauen und mir Schritt für Schritt erschließen, was mir wirklich wichtig ist. Um dann zu schauen, wie ich das in mein Leben integriere – also handle. Das ist immer ein kritischer Punkt am Ende dieser Reise: Komme ich von meinen Gedanken ins Handeln?
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Sie haben das Projekt „ZEIT Sinn – Wofür leben wir?“ ins Leben gerufen. Was genau steckt dahinter und welche Themen stehen dabei im Vordergrund?
Trotier: Wir haben das Projekt in den Ausläufern der Pandemie gegründet. Die war ja so etwas wie ein kollektiver Bruch. Plötzlich änderten sich alle Leben und viele Menschen begannen, sich große Fragen zu stellen: Wohne ich eigentlich, wie ich das möchte? Arbeite ich eigentlich, wie ich mir das wünsche? Lebe ich, wie es mir entspricht? Dieses Empfinden haben wir aufgenommen und versucht, einen Resonanzraum zu öffnen. Wir schreiben über Wendepunkte, an denen sich Sinnfragen aufdrängen. Wir führen große Interviews mit Prominenten, die über die existenziellen Fragen nachdenken. Wir machen uns Gedanken über den Begriff „Sinn“ und seine Bedeutung in unseren aufgerauten Zeiten.
Der Weg zur Sinnfindung kann unbequem sein und lieb gewonnene Illusionen zerstören. Was würden Sie Menschen raten, die Angst davor haben, diesen inneren Prozess zu beginnen?
Trotier: Die Angst ist völlig verständlich. Es ist ein großes Wagnis, sich auf diesen Weg zu machen. Es kann passieren, dass Selbstverständlichkeiten ins Wanken geraten und das Selbstverständnis bröckelt. Tatjana Schnell und ich sind allerdings überzeugt, dass es sich trotzdem – oder gerade deshalb – lohnt, sich in diesem Sinne verletzlich zu machen. Denn in der Verletzlichkeit liegt eine große Kraft. Man lebt nicht einfach so dahin, sondern schaut sich selbst an – mit allen Stärken und Schwächen. Man sieht, was nicht gut läuft, und kann gegensteuern. Viel schlimmer, als diesen Schritt zu wagen, ist es doch, nach Jahren oder Jahrzehnten im Rückblick festzustellen, dass man gar nicht das Leben gelebt hat, das man sich gewünscht hätte, sondern gelebt worden ist.
Was ist für Sie der Sinn des Lebens? Ganz generell (der Sinn des Lebens an sich) und für Sie persönlich (welchen Sinn geben Sie ihrem Leben)?
Trotier: Ich mag sehr das Wort „Hingabe“. Darin schwingt das Schutzlose und auch Schonungslose mit. Es geht aber nicht um eine Selbstaufgabe, sondern darum, sich wirklich einzulassen, mit allem, was man ist und hat. Auf sich selbst, und auf andere. Denn dieser Aspekt ist für mich ein ganz wichtiger: Nur wer sich selbst gut kennt und für sich sorgt, kann auch für andere da sein. Und darauf kommt es für mich im Leben an.
Foto: Kilian Trotier: © Fotograf Phil Dera; Buch-Cover: © Ullstein Verlag