Interview mit Anselm Bilgri: Gottesentrümpelung – Warum es nicht verrückt ist, heute religiös zu sein

by Hofelich

In seinem Buch „Gottesentrümpelung – Warum es nicht verrückt ist, heute religiös zu sein“ geht der frühere Benediktinermönch, Kloster-Andechs-Prior und Unternehmensberater Anselm Bilgri der Frage auf den Grund, warum die Religiosität der Menschen ungebrochen ist, ihre Kirchlichkeit hingegen rapide abnimmt. Im zweiten Teil des Interviews mit SinndesLebens24 spricht Anselm Bilgri über das Spannungsfeld der Kirche zwischen Anspruch und Wirklichkeit, was das Christentum als Lebenshilfe zu bieten hat, über seinen persönlichen Sinn des Lebens und seine Zukunftspläne.

Herr Bilgri, warum ist die Religiosität der Menschen ungebrochen, obwohl ihre Kirchlichkeit rapide abnimmt? Dieser Frage gehen Sie in Ihrem 2011 veröffentlichten Buch „Gottesentrümpelung“ auf den Grund. Was steckt dahinter?

Bilgri: Dieses Thema hat mich schon als junger Pater beschäftigt. Eigentlich ist es ja die Aufgabe von Religion, Menschen dabei zu helfen, ihr Leben zu gestalten und die Herausforderungen zu bewältigen. Viele Menschen sehen das jedoch genau umgekehrt, dass die Religion das Leben behindert und einschränkt durch zahlreiche Verbote. Alles was schön ist, ist entweder unmoralisch oder es macht dick. Es sollte mehr Lebensfreude vermittelt werden. Unser Leben ist kompliziert, für uns selbst und im Zusammenspiel mit anderen, dazu braucht man schon Hilfe. Die sollte Religion leisten. Jesus sagte schließlich, „ich will, dass ihr Leben in Fülle habt“. Die Religion sollte eine Lebenshilfe sein, doch das kommt zu wenig rüber – viele sehen sie eher als eine Lebensbehinderung. Das hängt mit dem Riesen-Apparat der Kirche zusammen, mit Bürokratie und Machtstreben, wie in jeder Organisation. Da muss man umdenken. Die Art und Weise, wie Macht in der Kirche ausgeübt wird, muss sich auch immer wieder an ihren eigenen Maximen messen lassen. Ich finde es sehr schön, dass der aktuelle Papst Franziskus der Kirche den Spiegel vorhält und sagt „unsere Botschaft ist Barmherzigkeit“.

Worin besteht Ihrer Meinung nach der von den Kirchen häufig zu wenig wirksam kommunizierte „Anwendernutzen“, die Lebensdienlichkeit des Christentums?

Bilgri: Eigentlich müsste die Kirche erkennen, dass sie dazu da ist, um zu dienen und zu helfen. Sie müsste Moderator sein und nicht Herrscher. Das ist eine große Aufgabe. Solange das nicht passiert, wird die Kirche in demokratischen Gesellschaften keinen Fuß mehr in die Tür bringen. Ich denke dabei auch an Benedikts Ordensregel „Führen ist Dienen“, das ist etwas zutiefst Christliches. Jesus hat gesagt: „Ich bin nicht gekommen, um mich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen“, oder „der Größte unter Euch sei wie ein Diener“. Ein Ehrentitel des Papstes ist „Diener der Diener Gottes“. Es muss in der Kirche von oben nach unten verstanden werden, dass man den Menschen dient. Papst Franziskus lebt das vor und will vor allem den Menschen an den Rändern dienen. Er macht es zwar vor, aber der ganze Apparat der Kirche, von den Kardinälen und Bischöfen bis hin zu den Pfarrern, denkt, die Leute müssten zu ihnen kommen, wenn sie etwas wollen. Ich denke, es muss genau umgekehrt sein, die Kirche muss zu den Leuten gehen. Die Kirche hilft beim Leben. Das passiert ja auch, aber in der Wahrnehmung der Menschen zu wenig.

Was kann die Religion als Lebenshilfe bieten, was die Philosophie nicht leisten kann? Manche wenden sich auch anderen Religionen wie dem Buddhismus zu – was spricht für das Christentum?

Bilgri: Die Philosophie behandelt Dinge, die wir mit unserem Verstand erschließen können. Religion hat etwas mit Spiritualität zu tun. Es fällt uns heute schwer, die Punkte im Glaubensbekenntnis – das zentrale Gebet, das unseren Glauben zusammenfast – zu glauben: Dass Jesus durch den Heiligen Geist empfangen wurde, dass er in den Himmel aufgefahren ist, usw. Viel wichtiger für unser Leben ist jedoch, was Jesus gesagt hat, z.B. „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“. Das habe ich immer als Lebenshilfe verstanden. Beim Blick auf andere Religionen hilft mir immer, Gemeinsamkeiten zu entdecken, etwa im Buddhismus das Thema Mitleid und im Christentum die Barmherzigkeit. In anderen Religionen, wie dem Islam und Judentum, gibt es häufig eine große Distanz zwischen Mensch und Gott. Im Christentum ist die Distanz geringer: Jesus ist Mensch – im Menschen, im Nächsten begegnet uns Gott. Das ist ein Appell, auf andere Menschen zuzugehen und uns mit den Menschen, mit denen wir zu tun haben, zusammenzuraufen. Das gilt für die Arbeit, für die Familie, den Freundeskreis, letztendlich für alle untereinander: dass sie die Menschlichkeit wertschätzen.

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Bilgri Gottesentrümpelung

 

Was ist für Sie persönlich der Sinn des Lebens?

Bilgri: Mich erfüllt, was ich gelernt und was ich mir erarbeitet habe. Nicht nur in der Schule und Ausbildung, sondern vor allem durch das Tun, durch den Umgang mit Menschen. Meine Erfahrungen an andere Menschen weiterzugeben, ist mein innerster Antrieb. Im Grunde genommen wollen alle Menschen glücklich werden. Wenn man sich umsieht, fragt man sich jedoch, warum viele genau das Gegenteil von dem tun, was sie glücklich machen könnte. Ich möchte anderen Menschen dabei helfen, zu entdecken, wie man glücklich werden kann. Letztendlich ist das größte Glück mit dem zufrieden zu sein, was man ist.

Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus? Welche weiteren Buchprojekte haben Sie geplant?

Bilgri: Ich habe vor, ein detailliertes Buch über meine Arbeit als Prior im Kloster Andechs zu schreiben und daraus allgemeine Tipps für mittelständische Traditionsunternehmen und Führungskräfte abzuleiten. Ein weiteres Projekt, das mich beschäftigt, ist die Anwendung des benediktinischen Prinzips auf die Kirche, mit konkreten Verbesserungsvorschlägen. Auch in der Stiftung München werde ich mich weiter engagieren. Sie leistet Wohltätiges in der bayerischen Landeshauptstadt, von der Jugend- bis zur Altenarbeit. Zu den Siftungsräten zählen u.a. Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter, Wolfgang Heubisch und Uli Hoeneß. Außerdem möchte ich das Angebot der „Akademie der Muße“, die ich 2013 mit zwei Kollegen gegründet habe, weiter ausbauen. Die Akademie leistet mit Kursen, Seminaren und Vorträgen Hilfestellung zur Entschleunigung. Dabei geben wir den Menschen Hilfsmittel mit auf den Weg, die sie im Alltag anwenden können. Das wird auch sehr gerne von Unternehmen angenommen für ihre Führungskräfte, die das in einem maßgeschneiderten 2-Tages-Workshop machen. Dieser Bereich hat für mich persönlich großes Zukunftspotenzial.

Herr Bilgri, vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Markus Hofelich.

Zur Person: Anselm Bilgri

Anselm Bilgri wurde 1953 in Unterhaching geboren, trat 1975 in die Benediktinerabtei Sankt Bonifaz in München ein und studierte Philosophie und Theologie in München, Rom und Passau. 1980 wurde er von Kardinal Joseph Ratzinger zum Priester geweiht. Von 1986 bis 2004 leitete er als Cellerar die Abtei St. Bonifaz in München und Andechs und gründete 2004 das Zentrum für Unternehmenskultur. Seit 2008 ist er Vortragender, Buchautor, Coach und Mediator. Außerdem doziert er seit 2011 an der Hochschule München und gründete 2013 die Akademie der Muße sowie die Stiftung München.  Zu seinen bekanntesten Büchern zählen „Vom Glück der Muße – Wie wir wieder leben lernen“ (2014, Piper Verlag), „Gottesentrümpelung – Warum es nicht verrückt ist, heute religiös zu sein“ (2011, Gütersloher Verlagshaus), „Herzensbildung – ein Plädoyer für das Kapital in uns“ (2009, Piper Verlag). Weitere Informationen unter: www.anselm-bilgri.de.

Bilder: Anselm Bilgri, Die Hoffotografen / Gütersloher Verlagshaus

Lesen Sie hier den ersten Teil des Interviews mit Anselm Bilgri: Die Benediktsregel als Leitfaden eines sinnvollen und erfüllten Lebens

 

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