Der Philosoph Christoph Quarch plädiert in seinem Buch „Liebe – der Geschmack des Christentums“ für eine „Erotisierung der Spiritualität“, die vom Eros der griechischen Philosophie inspiriert ist. Sein Credo: Bringt man das Religiöse und das Erotische, Spirituelle wieder zusammen, wie es die Griechen getan haben, würde das Christentum seine Sinnlichkeit zurückgewinnen. Im zweiten Teil des Interviews mit SinndesLebens24 spricht Christoph Quarch über die Spiritualität in griechischer Philosophie und Christentum, den Eros als spirituelle Kraft sowie über sein neues Buch „Rettet das Spiel“ für mehr Kreativität und Lebensfreude.
Herr Quarch, Sie stammen aus einem protestantischen Elternhaus und haben zunächst Theologie, dann Philosophie studiert. Wie fügen Sie Religion und Philosophie in ihrem persönlichen Weltbild zusammen?
Quarch: Die griechische Philosophie und die christliche Religion sind für mich kein Widerspruch. Philosophie als die Liebe zur Weisheit ist eine Kunst des Denkens, in allen Facetten, dazu gehören auch die spirituellen Aspekte. Ich persönlich habe zuerst meine Liebe zur Philosophie entdeckt. Als junger Mann bekam ich ein Buch von Platon in die Hand und spürte: Das betrifft mich, das geht mich etwas an, obwohl ich das Geschriebene damals kaum verstanden habe. Später habe ich mich stärker von der Religion angezogen gefühlt, die mir ein Bewusstsein für das Große und Ganze geöffnet hat. Auf die spirituellen Erfahrungen als junger Mensch konnte ich mir jedoch später im Theologiestudium keinen Reim machen. Aber mit dem, was ich bei Platon las. Dass es in der Tiefe der Welt und unseres Lebens unter der Oberfläche eine Dimension der Sinnhaftigkeit gibt, an die rückgebunden zu sein uns in die Lage versetzt, „ja“ zum Leben zu sagen, sprich Sinn zu erfahren. Um dieses „ja“ geht es sowohl in der Religion, als auch in der Philosophie, aber beide bewegen sich auf unterschiedlichen Pfaden zu ihm hin.
Wie unterscheidet sich die Spiritualität der griechischen Philosophie ihrer Meinung nach vom Christentum?
Quarch: Bei den alten Griechen gibt es keinen Schöpfergott, sondern eine ewige Natur, die immer war, die immer ist und immer sein wird, wie Heraklit sagte. Es gibt nicht wie im Christentum den allmächtigen Schöpfer der Welt, der seinem Volk diktiert, wie es sich zu verhalten hat. Die Griechen kennen stattdessen eine Tiefendimension des Kosmos, die sie „Gott“ oder „das Göttliche“ nannten. Dieses Göttliche verdichtete sich in ihrer Wahrnehmung zu Lebendigem, wie Apollo, Artemis oder Aphrodite. Diese Götter sind so etwas wie sinnvolles Leben, lebendiger Sinn in Hochpotenz. Wenn immer sie sich in Momenten intensivster Lebendigkeit vom Leben berührt fühlten, dann offenbarte sich ihnen darin ein Gott – je nach der jeweiligen Art der Erfahrung. Griechische Götter sind wie die bunten Farben des Regenbogens. In ihnen entfaltet sich das eine, weiße Licht des Göttlichen im Prisma des Mythos in die Vielfalt der Götter. In den bunten Farben dieser Götter erscheint ihnen die Welt. Im Gegenüber dieser Götter erkennen sie sich selbst und entfalten die in ihnen schlummernden Lebendigkeitspotenziale. Das ist ein ganz anderes Verständnis von Spiritualität. Eine unmittelbare, sinnlich spürbare Erfahrung von etwas Göttlichem in der Welt.
Was kann die Philosophie dem Menschen heute geben?
Quarch: Viele Menschen fühlen sich heute in den Kirchen nicht mehr heimisch und verstehen die Sprache, die dort gesprochen wird, einfach nicht mehr. Wir brauchen deshalb eine andere Sprache, andere Metaphern und Bilder, die dem Menschen helfen, sich selbst zu verstehen und ihm erlauben der zu sein, der er sein könnte. Das kann die Philosophie dem modernen Menschen geben. So wie wir den Menschen heute denken, hauptsächlich als Homo oeconomicus oder als Homo Faber, haben wir uns eine Selbstinterpretation gegeben, die unser eigentliches Wesen verfehlt. Wir leben entfremdet von unserem Selbst. Philosophie kann idealerweise dem Menschen eine Deutung seiner selbst geben, die es ihm erlaubt, authentisch, echt, wirklich Mensch zu sein: den Sinn des Lebens zu erfahren und Sinnvolles zu tun.
In Ihrem Buch „Liebe – der Geschmack des Christentums“ plädieren Sie für eine „Erotisierung des Christentums“. Was verstehen Sie darunter?
Quarch: Das Buch ist vor allem durch Platons Philosophie inspiriert. Eros ist in seinem Denken von zentraler Bedeutung: die Vitalkraft, mit der das Leben zu sich selbst kommen will. Dabei geht es nicht primär um Sexualität, sondern um die leidenschaftliche, sinnliche und begeisterte Liebe. Der Eros ist überall da, wo sich Menschen in etwas oder jemanden verlieben und von etwas oder jemandem tief in ihrer Seele berührt sind. Platon sagt, Eros ist ein Mittler zwischen Mensch und Welt, zwischen Mensch und Gott: eine Kraft, die uns verbindet. So lässt sich die Brücke bauen zum Thema Erotisierung des Christentums. In der griechischen Vorstellung verliebt sich Eros in das Schöne, das immer auf das Göttliche verweist. Im Schönen erfahren wir, wie das Leben eigentlich sein sollte: in Harmonie, Stimmigkeit und Sinnhaftigkeit. Wenn wir vom Schönen ergriffen sind, dann geraten wir in den Sog des Göttlichen. Eros bewegt uns dazu, dem Schönen immer ähnlicher zu werden, selber schön, gut und göttlich zu werden. So gesehen ist Eros eine spirituelle Kraft.
Wird das Christentum nicht auch als Religion der Liebe bezeichnet?
Quarch: Das Christentum wird als eine Religion der Liebe bezeichnet. Wichtige Leitsätze des Neuen Testaments sprechen davon, etwa: „Es bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung, aber Liebe ist die größte unter ihnen“ oder „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Wir haben uns seit Augustinus angewöhnt, diese Liebe als moralische Nächstenliebe (Caritas) zu deuten. In der christlichen Mainstream-Theologie bedeutet das: Wenn wir gut sind, die Werke der Nächstenliebe verrichten, dann erben wir das Himmelreich. Das halte ich für ein grobes Missverständnis. Wenn man Agape, die Liebe des neuen Testaments, im ursprünglichen Sinne als eine Erscheinung des Eros versteht, dann geht es nicht um karitative Nächstenliebe. Sondern darum, sich von der Schönheit der Schöpfung begeistern zu lassen und sich in das Leben zu verlieben. Wenn ich Jesus von Nazareth in diesem Licht interpretiere, dann wird er zu einem „erotischen“ Menschen, der das Leben und Gott liebt und sich aus dieser Begeisterung heraus dem anderen Menschen zuwendet, da er das Göttliche in jedem Menschen erkennt. Das meine ich mit der Erotisierung des Christentums: die Liebe, von der das Neue Testament spricht, als eine leidenschaftliche und nicht als eine moralische Qualität zu interpretieren.
Gibt es heute noch Leidenschaft im Christentum?
Quarch: Der Religionsphilosoph Walter Schubert sagt: „Wo Eros und Religion sich trennen, wird er gemein und sie erkaltet.“ Das beobachten wir heute. In der Breite ist keiner mehr entflammt für die christliche Religion. Sie ist eine erkaltete, rationalisierte Religion, in der sich kaum noch jemand wohlfühlt. Und der Eros ist zur bloßen Sexualität erniedrigt worden – so dass er nur noch im Eros-Center ein dürftiges Auskommen findet. Mit dem Eros der Griechen hat das nichts mehr zu tun. Wenn man das Religiöse und das Erotische in einer lebendigen Spiritualität wieder zusammenbringt, wie es die Griechen getan haben, würde das Christentum anfangen zu prickeln, es würde seine Sinnlichkeit und Emotionalität zurückgewinnen.
– Anzeige / Datenschutz –
Wie die Zahlen über Kirchenaustritte belegen, finden sich immer weniger Menschen in der heutigen Form des katholischen oder evangelischen Christentums wider. Auf der Suche nach Spiritualität wenden sich einige alternativen Weltanschauungen, der Meditation oder dem Buddhismus zu. Wie beurteilen Sie das?
Quarch: Im Grunde bringt das die Menschen auch nicht weiter. Ich habe selbst in einer Phase Zen Buddhismus praktiziert, mich dann aber wieder davon abgewandt. Der Buddhismus ist attraktiv, weil er etwas in Aussicht stellt, wonach sich der westliche Mensch sehnt: inneren Frieden sowie Freiheit von Leid und Schmerz. Das kann man tatsächlich auf dem Weg der Meditation erreichen. Man kann sich aus der Welt hinaus meditieren und sich in einen Zustand des gelassenen Nichtanhaftens begeben. Das ist aber so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was die Griechen mit ihrem Eros wollten, eine hingebungsvolle Leidenschaft zum Leben, ein Sich-Hineinstürzen ins Leben. Eine Spiritualität, die ich bei den Griechen finde und die auch im Christentum steckt, die das Leben in toto bejaht – auch da, wo gelitten, wo gestorben wird, auch am Kreuz. Aus dieser Haltung erwächst Aktivität, die Bereitschaft, sich auf das Spiel des Lebens einzulassen und tätig zu sein. Wer in buddhistische Welten flieht, sitzt zwar in seiner schmerzfreien Blase, aber er gestaltet das Leben nicht mehr. Deswegen bringt uns das nicht vorwärts. Aber wir müssen vorwärts kommen, gerade im Abendland, weil wir uns in einer schweren zivilisatorischen Krise befinden. Und da brauchen wir eine Spiritualität, die uns ermutigt, das Leben so zu nehmen, wie es ist, und auch das Heilige da zu erkennen, wo uns Schmerzen zugefügt werden.
Worin besteht die Gefahr eines falsch verstandenen, „verwestlichten“ Buddhismus?
Quarch: Die Gefahr des im Westen gelehrten Buddhismus besteht darin, dass sich der Mensch abkapselt und nicht im Dialog mit der Welt bleibt. Der Zen Buddhismus wird in Nordamerika oder Europa eher als eine Art Gelassenheits- oder Achtsamkeitstechnik gelehrt, die am Ende dazu dient, dass sich der Homo oeconomicus in seiner Produktivität und Effizienz noch besser optimieren kann; aber letztendlich immer mehr in die Falle der Selbstbezüglichkeit hineinläuft. Das ist das größte Problem, dass wir in der westlichen Welt haben: Wir kreisen alle um uns selbst und leugnen die Verbundenheit mit der Welt. Deswegen ist uns die Welt auch nicht mehr verbindlich. Die Generation Y fragt zwar nach dem Leben und nach dem Sinn, aber sie ist nicht bereit, Verbindlichkeiten einzugehen, und da fehlt auch der gesellschaftliche Zusammenhalt. Das sind Dinge, die mir im Augenblick Sorge machen.
Am 26. September wird Ihr nächste Buch erscheinen, es trägt den Titel: „Rettet das Spiel“. Darin plädieren Sie mit Ihrem Co-Autor Gerald Hüther für die Wiederentdeckung des Spiels, für mehr Kreativität und Lebensfreude in Familie, Partnerschaft und Beruf. Wie kamen Sie auf dieses Thema? Wieso ist das Spiel für uns so wichtig?
Quarch: Das gelingende Leben ist immer ein Ergebnis eines Prozesses, und der ist ein Spiel, ein hin und her zwischen Mensch und Welt. Ganz so, wie auch ein Kunstwerk in einem spielerisch kreativen Dialog gelingt. Deswegen ist mein nächstes Buch dem Thema Spiel gewidmet. Spielen ist das Gegenteil von Herstellen, Produzieren, Machen, von Technik und Strategie. Spielen bedeutet ein Sich-Einlassen auf ein Spielszenario, der Spielbewegung folgen und es darin zur Meisterschaft zu bringen. Das ist etwas vollkommen anderes, als wenn ich mir als Konstrukteur eine Blaupause davon mache, wie ich die Maschine meines Lebens haben möchte, und dann ein Programm oder eine Methode entwickle, wie ich dahin komme.
– Anzeige / Datenschutz –
Welche Rolle spielt dabei, im Hier und Jetzt zu leben?
Quarch: Man kann nur gut spielen, wenn man im Hier und Jetzt ist. Das heißt sicher nicht, zukunfts- und vergangenheitsvergessen zu sein. Sondern achtsam sein und wahrnehmen, was mir zugespielt wird, von anderen Menschen, vom Leben, von der Welt und mit meinem Spielzug darauf Antwort zu geben. Das ist, worum es letztendlich geht. In diesem Spiel-Setting geschieht das Wunder des Sinns. Es ist ein Prozess des Sich-Einstimmens. Wo die Dinge harmonisch zusammenspielen, da ist es gut. Wenn ich „ja“ dazu sage, erfahre ich es als sinnvoll und ich bin glücklich. Ein Zustand, an dem ich nichts verändern muss. Und das können wir gerade auch beim Spiel auf wunderbare Weise erfahren. Das ist der Moment des Sinns.
Herr Quarch, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Markus Hofelich.
Zur Person: Christoph Quarch
Dr. phil. Christoph Quarch wurde 1964 in Düsseldorf geboren und wuchs in einem protestantischen Elternhaus auf. Er studierte Philosophie, Theologie und Religionswissenschaften in Tübingen, Heidelberg und Bielefeld. Seine berufliche Laufbahn begann er im Journalismus als Redakteur, später als Chefredakteur und als Programmchef des Deutschen Evangelischen Kirchentags. Heute arbeitet der freiberufliche Philosoph als Autor, Seminarleiter, Keynote-Speaker und Reiseveranstalter und lebt mit seiner Familie in Fulda. Außerdem berät er Unternehmen, ist Autor für Firmenpublikationen und Unternehmensphilosophien und unterrichtet als Lehrbeauftragter an diversen Hochschulen. Als Autor und Herausgeber hat er bisher knapp 40 Bücher publiziert, darunter „Liebe – der Geschmack des Christentums“ (2015, Gütersloher Verlagshaus), „Das große Ja“ (2014, Goldmann-Verlag) oder „Der kleine Alltagsphilosoph“ (2014, Gräfe und Unzer Verlag). Sein neuestes Werk „Rettet das Spiel“ erscheint am 26. September 2016 im Hanser Verlag. Weitere Informationen unter: www.christophquarch.de.
Bilder: Markus Hofelich / Christoph Quarch, Nomi Baumgartl / Hanser Verlag
– Anzeige / Datenschutz –