In unserer von Verstand und Ratio geprägten Kultur gelten Gefühle meist als unprofessionell. Nüchtern bertachtet sind wir emotionale Analphabeten, die den Umgang mit Gefühlen verlernt haben, sagt Autorin und Coach Patrizia Patz. In ihrem Buch „Gefühle – Emotional gesund in einer rationalen Welt“ räumt sie mit den häufigsten Mythen rund um das Thema Gefühle auf. Sie zeigt, wie wir die eigenen Gefühle wieder richtig wahrnehmen und einordnen können, um die darin enthaltene Kraft zu nutzen und unser authentisches Potenzial zu leben. Im Interview spricht Patrizia Patz über die häufigsten Missverständnisse im Umgang mit Emotionen, wozu Verdrängung führt und wie wir unsere Gefühle wieder als Kraftquelle nutzen können.
Frau Patz, was hat Sie dazu bewogen, das Buch „Gefühle – Emotional gesund in einer rationalen Welt“ zu schreiben?
Patz: Als ich mit 36 in einem Workshop das erste Mal etwas über Gefühle lernte, traf es mich wie ein Blitz. Mir wurde klar, dass wir in unserer Kultur nahezu alle Analphabeten auf diesem Gebiet sind. Und die darauf folgende Ausbildung im Umgang mit meinen Gefühlen würde ich heute als einen der wichtigsten Entwicklungsschritte in meinem Leben bezeichnen.
Obwohl ich vorher schon sehr viel Persönlichkeitsentwicklung gemacht hatte. Als Trainer und Coach möchte ich dieses Wissen natürlich so vielen Menschen wie möglich zur Verfügung stellen. Was lag da näher, als ein Buch darüber zu schreiben, das sich leicht und auch unterhaltsam lesen lässt.
Was sind die häufigsten Missverständnisse, die wir heute im Umgang mit unseren Emotionen erleben?
Patz: Das grundlegende Missverständnis liegt in unserer gesellschaftlichen Konditionierung in Bezug auf Gefühle. Wir lernen sehr früh, dass Gefühle unprofessionell und damit nichts für Erwachsene sind. Dies führt dazu, dass wir schon während unserer Kindheit beginnen, unsere Gefühle zu verstecken und sie damit ins Exil des Unbewussten verbannen. Aus dieser Unbewusstheit entstehen dann viele weitere Missverständnisse, die uns den Umgang mit Gefühlen erschweren.
Ein weit verbreitetes Missverständnis ist beispielsweise, dass es eine unglaubliche Vielzahl an Gefühlen gibt und die Sache mit den Gefühlen deshalb sehr kompliziert ist. Dabei gibt es gerade mal vier primäre Grundgefühle, nämlich Wut, Traurigkeit, Angst und Freude. Jedes Gefühl gehört entweder in eine dieser vier Kategorien oder ist eine Mischung aus zwei oder mehreren dieser Gefühle.
Und dann gibt es noch unterschiedliche Zustände, die wir unter der Rubrik „Gefühle“ ablegen, die aber gar keine Gefühle sind. Wenn wir zum Beispiel sagen „Ich fühle mich müde“, dann ist das genau genommen kein Gefühl, sondern eine physische Empfindung.
Oder wenn wir sagen „Ich habe ein Gefühl für Farben und Formen“, dann ist das auch kein Gefühl, sondern ein Talent, eine Begabung. Andere häufige Missverständnisse liegen in der Annahme, dass Gefühle und Emotionen dasselbe sind, dass Liebe ein Gefühl ist, oder dass es negative und positive Gefühle gibt.
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Warum wird in unserer Gesellschaft die Ratio meist über das Gefühl gestellt und welche Probleme sind damit verbunden? Warum ist es so gefährlich, Emotionen zu unterdrücken? Was steckt hinter der weitverbreiteten Gefühlstaubheit?
Patz: Der Sieg der Ratio über das Gefühl ist eine kulturelle Entwicklung, die zurückgeht auf die Zeiten der wissenschaftlichen und industriellen Revolution. Als wir anfingen, die Welt als Maschine zu sehen, die wir logisch beeinflussen und kontrollieren können. Wir leben heute immer noch in einer Kultur, in der der Intellekt sehr geschätzt und genährt wird und Gefühle als unseriös und unprofessionell gelten.
Um in einer solchen Welt zu „funktionieren“ blieb uns nichts anderes übrig, als uns taub zu machen gegenüber Gefühlen. Sie gehen aber nicht weg, wenn wir uns betäuben. Gefühle können sich dann beispielsweise in körperlichen Symptomen manifestieren (etwa Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder Verspannungen).
Oder in intensiven Gefühlsausbrüchen wie Panikattacken und Wutanfällen, wenn das unbewusste Gefühl irgendwann so groß wird, dass es die Taubheitsschwelle übersteigt.
Da wir aber bisher nicht gelernt haben, mit Gefühlen umzugehen, werden wir von diesen Ausbrüchen dann regelrecht überwältigt. Und das sind nur einige der möglichen negativen Folgen, wenn wir Gefühle unterdrücken.
Wie sollten wir unsere Haltung zu Gefühlen ändern? Inwiefern kann man lernen, seine Gefühle „richtig“ zu kontrollieren?
Patz: Um in unserer rational gestrickten Welt emotional gesund zu werden, braucht es meiner Ansicht nach zwei Dinge. Schritt eins besteht darin, die eigene Haltung in Bezug auf Gefühle zu verändern. Das heißt, die alte Annahme aufzugeben, dass Gefühle unprofessionell sind.
Gefühle sind nämlich weder gut noch schlecht. Sie gehören zum menschlichen Repertoire, wie Denken oder Atmen. Und sie sind extrem nützlich. Gefühle geben uns wichtige Informationen und Kraft zum Handeln. Wenn ich beispielsweise wütend über etwas werde, dann gibt mir das die Information, dass hier etwas passiert, mit dem ich nicht einverstanden bin. Und die Wut versorgt mich dann mit der Kraft, eine Grenze zu setzen, Nein zu sagen oder eine Entscheidung zu treffen. Also Alles Dinge, die wir in unserem Leben gut gebrauchen können.
Wenn ich diese Haltung eingenommen habe, besteht der zweite Schritt darin, zu lernen, wieder bewusst zu fühlen und diese Gefühle auch für das eigene Leben zu nutzen. Wenn wir also aufhören, uns taub zu machen, werden wir fähig, Gefühle schon in geringerer Intensität als solche wahrzunehmen.
Bleiben wir beim Beispiel Wut. Sie sitzen an einem sonnigen Sonntagnachmittag im Garten und lesen in Ruhe ein Buch. Plötzlich ertönt Lärm aus dem Nachbarhaus. Ihr Nachbar hat den Fernseher angestellt und die Fenster sind offen. Und Sie fühlen etwas Wut in sich aufsteigen, da Sie sich jetzt nicht mehr auf ihr Buch konzentrieren können.
Dann nutzen Sie diese Wut, um in Aktion zu treten und klingeln bei Ihrem Nachbarn. Sie bitten ihn mit der Klarheit und Bestimmtheit, die Sie durch diese Wut bekommen, doch die Fenster zu schließen, solange der Fernseher läuft, damit Sie in Ruhe lesen können. Sie haben Ihre Wut bewusst genutzt, Ihr Nachbar schließt die Fenster und die Wut vergeht.
Es geht also um bewusstes Nutzen dieser Ressource, nicht um „richtiges“ Kontrollieren. Wenn wir von „Kontrollieren“ sprechen, impliziert das wieder, dass Gefühle uns überfallen und wir sie in den Griff bekommen müssen. Das ist Teil des alten Missverständnisses.
Meist versuchen wir, negative Gefühle wie Traurigkeit, Wut und Angst zu unterdrücken und nur positive wie Freude zuzulassen, was ja nicht funktioniert. Wozu führt die Verdrängung und warum ist es wichtig, alle Emotionen zuzulassen?
Patz: Die Kategorisierung in positiv und negativ ist ebenfalls Teil der genannten Konditionierung. Solange wir Traurigkeit, Wut und Angst als negativ sehen, werden wir sie loshaben wollen und sie unterdrücken. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass wir auf die Kraft, die in diesen Gefühlen steckt, verzichten. Was ziemlich unklug ist.
Das ist ungefähr so, als hätten wir in unserer Werkzeugkiste nützliche Werkzeuge, die wir aber nicht benutzen, weil wir damit auch jemanden verletzen könnten. Anstatt den bewussten und verantwortlichen Umgang mit diesen Werkzeugen zu erlernen, verstecken wir sie in der untersten Schublade unserer Werkzeugkiste. Dabei können wir so tolle Dinge damit machen.
Bewusste Wut ist beispielsweise das Werkzeug, mit dem wir Klarheit schaffen oder Grenzen setzen können. Mit bewusster Wut können wir Entscheidungen treffen, für etwas einstehen, etwas beginnen oder beenden. Bewusste Traurigkeit ist das Werkzeug, um uns mit anderen Menschen zu verbinden, um mitzufühlen und empathisch zu sein.
Mit bewusster Traurigkeit können wir Dinge loslassen, akzeptieren und verabschieden. Bewusste Angst ist das Werkzeug, um vorsichtig Neuland zu betreten und erfinderisch zu sein. Bewusste Angst macht uns wach, präsent, sie lässt uns kreativ und innovativ sein. Und bewusste Freude ist das Werkzeug, mit dem wir andere begeistern und motivieren oder ein Team weben können. Mit bewusster Freude können wir feiern, genießen und teilen.
Das Unterdrücken dieser Gefühle führt hingegen dazu, dass wir Gefühle unbewusst und unverantwortlich ausleben. Die unbewusste Wut hat zur Folge, dass wir ständig an unserem Partner rummeckern oder verletzende Kommentare loslassen. Anstatt klar zu sagen, was für uns nicht in Ordnung ist und was wir nicht wollen.
Die unbewusste Angst führt dazu, dass wir versuchen, alles unter Kontrolle zu halten und niemandem zu vertrauen, anstatt Neues auszuprobieren, kreativ zu sein oder andere ihre Erfahrungen machen zu lassen. Und die unbewusste Traurigkeit lässt uns Opfer sein und den lieben langen Tag über die Umstände jammern, anstatt uns mit anderen zu verbinden, um Hilfe zu bitten oder uns authentisch verletzlich zu zeigen. In der Interaktion mit unseren Mitmenschen landen wir dann ganz schnell im bekannten Alltagsdrama.
Wie kann man es trotzdem schaffen, aus länger andauernden Phasen von Traurigkeit wieder in die Freude zu gelangen?
Patz: Länger andauernde Phasen von Traurigkeit können unterschiedliche Ursachen haben. Es kann sein, dass wir in einem tiefen Trauer-Prozess stecken, beispielsweise wenn wir einen Verlust erlitten haben. Ein Todesfall in der Familie oder ähnliches. Hier hilft uns das Gefühl Traurigkeit dabei, Abschied zu nehmen und loszulassen.
Das, was war, zu würdigen und die neuen Umstände zu akzeptieren. Traurigkeit lässt uns weich und demütig werden – sie zeigt uns was uns wichtig ist. In einer solchen Situation ist es sinnvoll, dem Gefühl der Traurigkeit Raum zu geben, damit unser Herz heilen kann. Die Freude kommt dann irgendwann von ganz allein wieder.
Allerdings kann jeder länger anhaltende Gefühls-Zustand seine Ursache auch im Unterdrücken von Gefühlen haben. Wie gesagt, Gefühle gehen nicht einfach weg, wenn wir uns taub machen. Wir verbannen sie damit einfach nur ins Unbewusste und dort wabern sie dann weiter. Dann haben wir keinen bewussten Zugang mehr dazu.
Teilweise vermischen wir in der Unbewusstheit dann auch noch unterschiedliche Gefühle miteinander. Und dann können Gefühls-Zustände entstehen wie Depressionen oder Verzweiflung, aus denen wir alleine nur schwer wieder herauskommen. Da mit der Vermischung Klarheit und Kraft verloren gehen. Hier bietet beispielsweise die bewusste Gefühlsarbeit Abhilfe. Sie beinhaltet Techniken, um aus diesem Zustand der Vermischung von Gefühlen wieder in die Klarheit zu kommen.
Wie können wir weitverbreitete diffuse und meist unbegründete Ängste – wie etwa generell vor dem Versagen, vor dem Verlust des Partners oder Arbeitsplatzes – in den Griff kriegen?
Patz: Oftmals haben solche Ängste ihre Ursache in der Vergangenheit und entstehen durch schmerzliche Situationen, die wir in der Kindheit durchlebt haben. Wenn sich beispielsweise die Eltern trennen, während wir noch klein sind, kann diese „traumatische“ Erfahrung im Erwachsenenalter zu einer emotionalen Angst vor dem Verlust des Partners führen.
Die Verbindung zu der frühkindlichen Situation ist uns aber nicht mehr bewusst. Es ist eher wie ein verstecktes, altes Computerprogramm, das immer wieder anspringt, wenn jemand den roten Knopf drückt. Hier hilft Bewusstwerdung und Heilung der alten Verletzungen, zum Beispiel durch bewusste Gefühlsarbeit.
Und ganz generell geht es darum, unsere Haltung in Bezug auf Angst zu verändern. In unserer Gesellschaft lehnen wir das Gefühl Angst ab. Wir wollen keine Angst haben und uns stattdessen sicher fühlen. Ganze Wirtschaftszweige wie die Versicherungsbranche leben von unserer Angst vor der Angst.
Dabei ist Angst eine unserer größten Ressourcen, während Sicherheit nur eine Illusion ist! Angst macht uns wach, kreativ und lässt uns vorsichtig Neuland betreten – allerdings nur, wenn es für uns okay ist, Angst zu fühlen und wir gelernt haben, sie zu nutzen. Solange wir Angst ablehnen und sie unterdrücken, hat die Angst uns im Griff, statt umgekehrt.
Wie entkräften Sie den weitverbreiteten Mythos, dass Emotionen verhindern, klare Entscheidungen zu treffen? Welche Rolle kommt den Emotionen bei Entscheidungen zu?
Patz: Hier muss ich erst noch einmal auf die Unterscheidung zwischen Emotion und Gefühl eingehen. Emotionen haben ihren Ursprung meist in unserer Vergangenheit – in schmerzlichen Erfahrungen, die wir vor langer Zeit gemacht haben und die wir auf aktuelle Situationen projizieren. Wenn wir unbewusst aus einer alten Emotion heraus reagieren, treffen wir womöglich keine gute Entscheidung. Gefühle hingegen treten auf, wenn wir im Hier und Jetzt zentriert sind.
Sie geben uns Information und Kraft zum Handeln. Bewusste Gefühle unterstützen uns also, ausgewogene und authentische Entscheidungen zu treffen. Diese sind vielleicht nicht immer nur vernünftig, sondern beziehen auch das mit ein, was uns begeistert, was uns wichtig ist und uns am Herzen liegt. Wenn wir wieder in der Lage sind zu fühlen, können wir Entscheidungen mit Herz und Verstand treffen.
Wie können wir unsere Gefühle als Katalysator unseres Innersten und als Kraftquelle nutzen? Welche Rolle spielen Gefühle dabei, unser authentisches Potenzial zu leben? Wie müssen wir diese richtig einsetzen, damit das gelingen kann?
Patz: Es geht darum, aus dem Teufelskreis der negativen Gefühlskonditionierung bewusst auszusteigen und damit eine andere Dynamik in Gang zu setzen. Ein möglicher Weg liegt wie gesagt in bewusster Gefühlsarbeit. Dabei legen wir den Zugang zu unseren authentischen Gefühlen wieder frei.
Wir lassen alte emotionale Verletzung heilen und lernen die Kraft des bewussten Fühlens für das eigene Leben zu nutzen – für unsere Beziehungen, für unseren beruflichen Weg, für unseren Alltag. Und nicht nur das – wir bekommen auch all die Lebensenergie zurück, die notwendig war, um Gefühle zu unterdrücken.
Sie sind auch als Coach tätig und bieten Trainings zur Persönlichkeitsentwicklung und beraten Unternehmen zum Thema „New Work“. Welche Schwerpunkte setzen Sie dabei?
Patz: Im Grunde geht es in meiner Arbeit immer um das Hinauswachsen über limitierende Konditionierungen. Dazu gehört natürlich auch das meist noch unerschlossene Potenzial der Gefühle. Egal ob es sich um Privatpersonen handelt, die sich mehr Lebendigkeit, mehr Authentizität und mehr Möglichkeiten wünschen.
Oder um Unternehmen, die den Ruf der Zeit hören und merken, dass die gewöhnlichen Vorgehensweisen im hierarchischen Unternehmenskontext nicht mehr funktionieren. Aber keine Ahnung haben, wie sie anders vorgehen könnten. In beiden Fällen versorge ich meine Klienten mit neuen, ungewöhnlichen Perspektiven und Soft-Skills, die ihnen mehr Möglichkeiten zur Verfügung stellen und ihren Handlungsspielraum erweitern.
Sie bezeichnen sich gerne auch als „Evolutionäre Krustensprengerin“. Was bedeutet das?
Patz: Eine „Evolutionäre Krustensprengerin“ sorgt dafür, dass alte Krusten in Form von kulturellen Paradigmen oder persönlich überholten Mustern aufbrechen. Sodass das ursprüngliche, authentisch Lebendige wieder zum Vorschein kommt und Evolution passieren kann. Ich liebe diesen Job!
Was ist für Sie persönlich der Sinn des Lebens?
Patz: Das ist eine sehr große Frage! Für mich persönlich liegt der Sinn des Lebens im „Lebendig Sein“ an sich. Das hört sich jetzt vielleicht etwas banal an. Aber ich glaube, dass wir unsere Lebendigkeit oft unserer Sucht nach Sicherheit opfern und so Gefahr laufen, zu lebenden Toten zu werden, die nichts riskieren und versuchen, alles unter Kontrolle zu halten. Die eigene Gefühlswelt auszubilden, ist ein Weg zurück zu mehr Lebendigkeit.
Das Interview führte Markus Hofelich.
Weitere Informationen unter: www.emotional-empowerment.de
Bilder: Patrizia Patz / Cover: Verlag BusinessVillage
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