Das Leben zu entrümpeln und zu entschleunigen, um zum Wesentlichen und zu sich selbst zu finden, ist die Kernphilosophie hinter „simplify your life“. Der evangelische Pfarrer, Journalist und Speaker Werner Tiki Küstenmacher hat diesen Klassiker der Lebensführung 2001 zusammen mit seinem Co-Autor Lothar Seiwert geschrieben. Auch knapp 20 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung hat das Buch nichts an Aktualität verloren. In Zeiten wachsender Komplexität hat die Sehnsucht nach einem einfacheren und glücklicheren Leben sogar stark zugenommen. „simplify your life“ wurde in über 40 Sprachen übersetzt und weltweit über 4 Millionen mal verkauft. Insgesamt hat Tiki Küstenmacher, Jahrgang 1953, über 100 Bücher geschrieben. Im Interview erklärt er, warum und wie die Vereinfachung in unterschiedlichsten Bereichen glücklich macht. Zudem spricht über den Überdruss am Überfluss und gibt Tipps zum Umgang mit der Corona-Krise.
Herr Küstenmacher, Sie sagen „Ordnung ist das halbe Leben“. Warum ist es gerade in Zeiten der Corona-Krise so wichtig für uns, Aufzuräumen und mit äußerer Ordnung auch innere Ordnung zu schaffen?
Küstenmacher: Das mit der Ordnung und dem halben Leben ist eine alte Redensart, die sage ich aber gar nicht. Im Gegenteil, meine Einstellung zum Thema Ordnung empfinde ich – im Gegensatz etwa zu Marie Kondo – als ausgesprochen liberal und gelassen. Es gibt Menschen, die ihre kleinen Voralpen auf dem Schreibtisch brauchen, weil die für sie ein Sinnbild sind, aus dem Vollen zu schöpfen. Oder deren Wohnumgebung voller Erinnerungsstücke und persönlicher Symbole ist, und die prima damit klarkommen.
Es gibt auch Menschen, die ohne jede Hilfestellung alle Dinge stets prima in Schuss haben. Diese beiden Gruppen brauchen „simplify“ nicht. Ich wende mich an die Leute in der Mitte. Menschen, die es gern ordentlicher hätten, aber nicht wissen, wie. Bei den meisten fehlt es nur an der richtigen Methode.
Warum wirkt sich die Befreiung von altem überflüssigem Ballast generell so positiv auf die Seele aus?
Küstenmacher: Die Entdeckung, die „simplify your life“ zugrunde liegt, hat was von Einsteins Relativitätstheorie: Es gibt einen elementaren Zusammenhang von Zeit und Raum. Gemeint ist ganz konkret der Platz, den mir meine Wohn- und Arbeitsumgebung bietet. Steht dort alles voll mit Stapeln, unerledigten Aufgaben und nervigen Gegenständen, empfinde ich auch meinen Alltag als überfüllt.
Entrümpeln macht mich freier und lässt mich Zeit anders erleben. Innenleben und äußere Umgebung sind miteinander verbunden. Wenn ich meinen Arbeitstisch aufgeräumt habe und nicht mehr auf die Stapel vor mir schauen muss, geht es mir besser. Jedes Mal.
Viele Haushalte sind überfüllt mit Dingen, die gedankenlos angehäuft wurden und die meist gar nicht gebraucht werden. Wie sollten wir diese Mammut-Aufgabe am besten beginnen? Und wie können wir uns einfacher entscheiden, was wir noch brauchen und was nicht?
Küstenmacher: Entscheiden – das ist genau der Punkt. Immer mehr Menschen leben nach den Grundsätzen „Weniger ist mehr“ und „Qualität statt Quantität“, weil sie entscheidungsmüde geworden sind. Ob Mantel oder Sofa, Trekking-Stöcke oder Computer: Noch nie war die Auswahl so groß wie heute. Ähnliches gilt auch für Studiengänge, Versicherungsverträge, Reiseziele, Freizeitaktivitäten etc.
Was früher „Qual der Wahl“ hieß, bezeichnen Psychologen als Entscheidungsmüdigkeit (decision fatigue). Wer langlebige Produkte kauft, die er seltener ersetzen muss, macht sich’s damit leichter. Da hat eine große Ausnahmesituation wie die gegenwärtige Corona-Pandemie sogar etwas Erholsames: Die Möglichkeiten schränken sich ein, es gibt weniger Entscheidungsspielraum.
Zur praktischen Durchführung des Ganzen: Vor allem sollten Sie den Ort herausfinden, an dem Sie am meisten genervt sind. Das ist häufig der Arbeitstisch, oft auch der Kleiderschrank oder sonst irgendein Platz, an dem sich Sachen gehäuft haben. Da bildet das äußere Chaos ein inneres Durcheinander ab.
Haben Sie Ihren Nerv-Space identifiziert, besteht die simplify-Methode aus zwei einfachen Schritten. Erstens: Beschränken Sie sich auf genau diesen Ort. Also nicht „Oh je oh je, bei mir ist es überall so unordentlich!“, sondern ganz klare Konzentration auf diesen Hotspot.
Zweiter Schritt: Räumen Sie diesen Ort komplett leer! Alles runter vom Schreibtisch, auch den Computer, die Schreibunterlage, alles. Bei einer Schublade das Teil ausbauen, auf den Kopf stellen, leermachen. Genauso beim Kleiderschrank, Kellerregal, Küchenbord & Co. Danach diese leere Fläche saubermachen, auf Hochglanz bringen, sodass Sie emotional von dem Platz erfreut sind. Das war schon die ganze Methode.
Denn der Rest geht fast automatisch. Sie werden auf diese tolle Fläche, in diese wunderbare Schublade, in diesen herrlichen Schrank nur noch Dinge lassen, die Ihnen gut tun und die Sie dort haben wollen. Sie werden sich wundern, wie viele Sachen diesen Test nicht bestehen! Diese Dinge lagern Sie dann anderswo, oder sie fliegen ganz raus. „Klingt unmöglich!“ schreien da viele. Aber bitte probieren Sie es aus. Es ist ein super life hack fürs Aufräumen.
Warum herrscht in unserer übersättigten Wohlstandsgesellschaft „Überdruss am Überfluss“. Warum werden wir glücklicher, wenn wir unser Leben konsequent vereinfachen?
Küstenmacher: Hm, möglicherweise steckt das Problem schon darin, wie Sie Ihre Frage formulieren. „Übersättigt“, „Überfluss“, das klingt unterschwellig aggressiv. Meine Erfahrung: Wer seine Sachen heimlich hasst, wird sie nicht los. Da ist die Methode von Marie Kondo intelligenter: Sie fordert dazu auf, sich von den Gegenständen, die man nicht mehr braucht, freundlich zu verabschieden. „Danke, dass ihr mir mal so riesig gefallen habt, liebe Plateaustiefel, aber jetzt sage ich euch Adieu.“
Der Hintergrund: Wer Wohlstandgesellschaft scheiße findet, fühlt sich ihr unterlegen. Er hat das Gefühl, von irgendwem auf irgendeine mysteriöse Weise manipuliert zu werden. Ich finde Überfluss super. Überfluss ist das Grundprinzip der Natur. Ich bin auf der Welt, weil mein Vater ein paar Millionen Samen in das Fortpflanzungssystem meiner Mutter geschickt hat, die ihrerseits mit ein paar tausend fix und fertig vorbereiteten Eizellen auf die Welt gekommen ist.
Das ist konstruktiv gesehen der totale Luxus, aber so etwas leistet sich die Natur. Weil sie auf Nummer sicher gehen will, dass das Leben weitergeht. Von Wolf Lotter gibt es ein wundervolles Buch darüber, wie Wirtschaft funktioniert. Es heißt „Verschwendung“. Wir haben auf diesem Planeten genug zum Leben, weil eigentlich von allem zu viel da ist.
Das ist auch ein wichtiger Move beim Thema Klimawandel. Vom Trendforscher Matthias Horx habe ich gelernt, dass der ständige Blick auf den Mangel keine Lösungen bringen kann. Horx nennt das die Schuldlogik des grünen Ökologismus. Dahinter stecken uralte religiöse Muster: Dass wir vormals im Paradies so frei und friedlich lebten, bis unser sündhaftes Verhalten uns ins Chaos stürzte. Dem gegenüber setzt er die blaue Ökologie, die auf das allgegenwärtige Geschenk der Verschwendung schaut. Blau wie der Himmel, das Meer, die Evolution unserer Intelligenz.
„simplify“ steht für dieses Paradox: Einfachheit entsteht, indem ich mich mit der Komplexität versöhne. Unser menschlicher Körper ist ein unvorstellbar komplexer Organismus, doch er funktioniert, weil jede Zelle, jedes Molekül relativ einfachen Regeln folgt. Um Zukunft zu meistern, müssen wir das Wesen der Paradoxie verstehen. Wir Menschen sehnen uns nach Eindeutigkeit.
Doch gleichzeitig existiert das Leben auf dem Planeten Erde im Spannungsfeld riesiger atmosphärischer und biologischer Umbrüche. Menschen überleben auch in chaotischsten Gesellschaften, dysfunktionalen Staatsformen und unter absurden traditionellen Bedingungen. Wir Menschen halten viel mehr Widersprüche aus, als wir uns zutrauen.
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In Ihrem long-time Bestseller und Klassiker der Lebensführung „simplify your life“ ist das Thema Aufräumen und Entrümpeln nur ein wichtiger Punkt unter vielen. Welche weiteren Bereiche decken Sie ab?
Küstenmacher: Es geht um Zeit, Geld, Gesundheit, soziale Beziehungen und Liebe. Vor allem aber habe ich bei der Überarbeitung von „simplify your life“ für die Taschenbuchausgabe ein achtes Kapitel über Spiritualität und Religion hinzugefügt. Als gelernter evangelischer Pfarrer bin ich immer wieder entsetzt, wie wenig die Leute von den Fortschritten der Theologie wissen. Das Bild, das wir uns von Gott machen, macht genauso eine Evolution durch wie die Entwicklung der Computertechnik, der Medizin, der Philosophie.
Früher habe ich wie Jesus zu Gott, dem Vater, gebetet. Dann wurde mir klar, dass das eine Metapher ist. Gott ist kein Vater, keine Mutter, überhaupt keine Person. Ja, er (oder sie, oder es) lässt sich mit unseren normalen Kategorien zwangsläufig gar nicht erfassen. Etwa mit der Frage, ob es ihn „gibt“. Dietrich Bonhoeffer brachte das auf die Formel: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“
Das größte und geheimnisvollste Paradox ist die innerste Erkenntnis des christlichen Glaubens, die ich nach wie vor für weitgehend unentdeckt halte: die Einheit von Gott und Mensch. „Bleibt in mir und ich in euch“, sagt Jesus im Johannesevangelium. Gott und Mensch bilden keinen Gegensatz mehr. Sie sind aufeinander bezogen, einer kann ohne den anderen nicht sein. Das ist die Energie, die uns mit Gott und untereinander verbindet. Man bezeichnet sie mit dem einfachen Begriff Liebe.
Gott (oder wie immer Menschen das in ihrer Begrifflichkeit nennen) ist der Ort, in dem Widersprüche und Paradoxien aufgehoben werden. Der Philosoph, Mystiker und Kardinal Nikolaus von Kues hat das schon vor rund 600 Jahren formuliert: In Gott fallen die Gegensätze zusammen. Denn von dort sind sie auch alle gekommen. Gott ist der Urgrund allen Daseins, die absolute Einfachheit.
Durch Schöpfung und Evolution entfaltet sich diese Einheit, bildet immer neue Strukturen und schöpferische Gegensätze, ein faszinierendes Netzwerk aus Werden und Vergehen, aus Verschmelzen und Zerteilen. Alles wird angetrieben von der unendlichen Energie der Liebe, die sich bei allem Teilen und Verschenken sehnt nach der Vereinigung, nach der absoluten Einfachheit, wie sie am Anfang war.
Wie können wir die Zeit der Isolation und Quarantäne nutzen, um zum Wesentlichen in unserem Leben und zu uns selbst zu finden?
Küstenmacher: Na, vielleicht am besten durch Stille. In sich hineinhorchen, was für Fragen in der eigenen Tiefe da schlummern, die sich im Standardbetrieb des Alltags nie an die Oberfläche getraut haben. Etwa die Frage über die eigene geistige Evolution: Was habe in meinem Leben gelernt? Wirklich gelernt, also nicht wie man Apps bedient oder technische Geräte, sondern Herzenserkenntnisse. Ich bin sicher, dass da wunderbare Entdeckungen warten.
Welche weiteren wichtigen Tipps können Sie den Menschen geben, um die Zeit der Corona-Krise durchzustehen und Lagerkoller und Quarantäne-Blues zu vermeiden?
Küstenmacher: Nicht nur unsere innere und äußere Ordnung und Unordnung wirken aufeinander ein, sondern auch unser körperlicher Zustand und wie wir mental drauf sind. Der Neuromediziner Antonio Damasio nennt das somatische Marker: Der Zustand des limbischen Systems, also des für Emotionen zuständigen Gehirnteils, bildet sich ab im Körper – in Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Bauchweh usw. Jeder kennt das.
Die gute Nachricht: Somatische Marker funktionieren in beiden Richtungen. Wenn man etwas Gutes macht mit seinem Körper, ist das auch gut für die Stimmung und die Seele. Das kennt jeder, der joggt, Sport treibt, Tai Chi macht oder Yoga.
Die allereinfachste und doch verblüffend wirkungsvolle Form habe ich gelernt von dem Arzt Madan Kataria aus Mumbay, dem Erfinder von Lachyoga. Er empfiehlt, am Tag immer wieder einmal bewusst zu lächeln. Das muss kein breites Grinsen sein, nur ein kleines, aber echtes, unverkrampftes Lächeln. Das ist so schlicht, dass ich mich fast nicht traue, es als Tipp weiterzugeben.
Aber es ist enorm, was es mit einem macht. Denn das „Leerlaufgesicht“ ist meist ernst oder sogar traurig, die Gesichtszüge hängen mehr oder weniger runter. Sobald ich aber bewusst die Lächelmuskeln aktiviere, drücken die auf winzige Sensoren im Gesicht, die direkt verbunden sind mit dem limbischen System und ihm melden: Alles ist gut. Am besten funktioniert es übrigens beim Einschlafen, also im Dunkeln. Unbedingt machen!
Wie haben Sie selbst Ihr Leben in Zeiten der Corona-Krise und Isolation organisiert?
Küstenmacher: Ich habe das Glück, in einem geräumigen Haus mit Garten zu wohnen. Man kann auch sagen: Meine Frau war so schlau, alles in diesen einen Ort zu investieren. Wir reisen eher wenig, haben keine Ferienwohnung oder andere Ablenkungen, sondern arbeiten schon seit vielen Jahren in unserem schönen Zuhause. Das bewährt sich in solchen Quarantänesituationen natürlich sehr.
Seit der Pandemie bekomme ich immer mehr Anfragen für Telefon- und Videokonferenzen – und staune, wie sehr mich das nervt. Ich habe in den vergangenen Jahren gelernt, meine Tätigkeit als Autor, Zeichner und Redner ohne Meetings und große Besprechungen zu organisieren. Irgendwie ist Quarantäne bei mir eher der Normal- als der Ausnahmezustand.
Welche Angebote bieten Sie neben Ihren Büchern an, um interessierte Menschen beim Thema „simplify your life zu unterstützen?
Küstenmacher: Auf simplify.de und den üblichen podcast-Kanälen gibt es ein ziemlich breites Angebot von Audios mit mir. Das Suchwort simplify führt zielgenau dorthin. Videos mit mir finden sich auf YouTube. Da gibt es alles, von gezielt produzierten bis zu den urigsten Videomitschnitten meiner Vorträge. Denn ich habe immer alles erlaubt. Großes Heckmeck um meine Persönlichkeitsrechte war nie mein Ding, ich komme in Sachen Daten aus der guten alten public-domain-Ecke. An Online-Kursen arbeite ich gerade.
Aber einen Buchtipp möchte ich hier noch platzieren: Meine Frau hat zusammen mit mir und unserem gemeinsamen Freund Tilmann Haberer das Buch „Gott 9.0“ geschrieben. Das halte ich in aller Bescheidenheit für unser bestes Werk. Es hat nur einen Nachteil: Es ist seiner Zeit voraus. Wer gewappnet sein will für die Zukunft, sollte sich das unbedingt zulegen. Es ist leicht lesbar geschrieben, ohne philosophische oder theologische Vorbildung, da habe ich in unserem Autorenteam größten Wert drauf gelegt. Ende des Werbeblocks. Und vielen Dank, dass Sie mich auf Ihre großartige Website eingeladen haben!
Weitere Informationen unter: www.simplify.de
Bilder: Werner Tiki Küstenmacher / tempus
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